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Das graue Wunder von Chemnitz

Die Deutsche Bahn will den Viadukt über die Chemnitz abreißen. Die Stadt will das Bauwerk erhalten und notfalls klagen. Entschieden wird wohl politisch – in Berlin.

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© kairospress

Von Thomas Schade

Besucht man die Internetseiten der Deutschen Bahn, so ist die Sache mit dem Chemnitzer Bahnbogen anscheinend schon gelaufen. Die Strecke vom Hauptbahnhof zum Stadtteil Kappel ist Teil der Sachsen-Franken-Magistrale und soll fit gemacht werden für die Zukunft. Da sind fünf Stahlbrücken aus dem vergangenen Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß, so glauben die Planer der Bahn. Sie haben beantragt, das historische und denkmalgeschützte Ensemble niederzureißen. Noch rollen Züge über die alten Brücken. Aber seit Jahren schwelt ein inzwischen unversöhnlicher Streit um die Zukunft dieser Zeitzeugen sächsischer Industriegeschichte. Und der Zoff bekommt bald neue Nahrung.

Wer mit dem Zug von Chemnitz nach Zwickau will, fährt nach dem Hauptbahnhof zunächst ostwärts vorbei am Sonnenberg und am Lutherviertel. In einem fast drei Kilometer langen Bogen rollt der Regionalexpress vorbei am Zentrum der Stadt. Ziemlich am Ende des Bahnbogens rattern die Züge auf einem Viadukt über den Fluss Chemnitz, ehe sie die Stadt Richtung Hohenstein-Ernstthal verlassen.

Vom Zugfenster aus sind die Ausmaße des Viaduktes kaum wahrzunehmen. Mehr als 17 Meter breit und etwa 270 Meter lang ist er – aber so unscheinbar grau, dass man ihm kaum Beachtung schenkt. Dennoch ist dieser Viadukt für Chemnitz so etwas wie das Blaue Wunder für Dresden.

Der Vergleich sei „nicht so abwegig“, sagt Michael Steetz vom Landesamt für Denkmalpflege, zuständig für technische Denkmale in Sachsen. Beide Bauwerke seien genietete Stahlkonstruktionen. Beide sind etwa gleich lang. Die Stahlprofile wurden seinerzeit in derselben Stahlschmelze gewalzt, der Königin Marienhütte in Cainsdorf bei Zwickau, einem der größten Eisenwerke Sachsens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Es war die große Zeit des deutschen Stahlbaus. „Beide Brücken sind reife Stahlbaukunst“, sagt Streetz. „Sächsische Industriegeschichte, auf die wir nicht verzichten dürfen.“

Zwillinge sind beide Bauwerke nicht. Das Blaue Wunder ist einige Jahre älter, wiegt 3 500 Tonnen und wird von 100 000 Nieten zusammengehalten. Die Baukosten lagen 1893 bei 2,25 Millionen Reichsmark. Der Chemnitzer Viadukt hat nur die Hälfte gekostet. Hier verbaute man doppelt so viel Stahl und verpresste 2,5 Millionen Nieten.

Der Viadukt ist das wichtigste Element des Brückenbogens. Er verkörpere die „Kultur des Industriezeitalters“, sagt Werner Lorenz, Professor für Bautechnikgeschichte und Tragwerkserhaltung an der TU Cottbus. Er schwärmt von der „einzigartigen Verbindung von Technik und Schönheit“.

Die Konstruktion besteht aus einer Abfolge von Bogen- und Balkenbrücken mit zwölf Öffnungen. Ein Fachwerk genieteter Walzprofile aus dem besten Flussstahl jener Zeit. Der größte Teil der Konstruktion ruht auf fast filigranen Säulen. Nur über die Beckerstraße und über die Chemnitz spannen sich Bögen. Ihre Dimension erfasst der Betrachter erst, wenn er darunter steht, dort wo Betonfundamente die mächtigen Stahlteller tragen, von denen die gewaltigen Bogen aufsteigen. Sicher käme die Konstruktion besser zur Geltung, wenn der Stahl nicht von einem unscheinbaren Grau vor Korrosion geschützt würde.

Ganz anders in Dresden. Dort erheben sich in hellem Blau zwei markante stählerne Pylonen über der Elbe. An ihnen hängt die bekannteste Brücke der Stadt und verbindet die noblen Stadtteile Loschwitz und Blasewitz miteinander. Jeder, der einen Abriss des Blauen Wunders verkünden würde, müsste mit der Empörung und dem Zorn einer ganzen Stadt rechnen. In Chemnitz dagegen schwebt seit 15 Jahren die Gefahr des Abrisses über dem Viadukt.

Die Debatte begann etwa im Jahr 2002 und gipfelte zunächst in einem Wettbewerb, den Stadt und Bahn gemeinsam ausriefen. Gesucht wurde eine moderne Alternative zum Viadukt. Die Bahn argumentierte mit einem Gutachten, das der Brücke eine Restnutzungsdauer von nur fünf bis sieben Jahren bescheinigte. „Detaillierte Voruntersuchungen“ hätten ergeben, dass die „Unterhaltung des vorhandenen Bauwerkes weder technisch noch wirtschaftlich vertretbar“ sei, schrieb die Stadt seinerzeit im guten Glauben. Heute ist bekannt, dass die Fachleute damals für ihre Expertise das Bauwerk salopp gesagt nur scharf angeguckt hatten. Dennoch mahnten Denkmalschützer schon vor dem Abriss. Die vermeintliche Restnutzungsdauer verstrich. Und die Züge rollen bis heute wie eh und je über den Viadukt.

Erst als Anwohner zehn Jahre später bemerkten, dass die Stahlkonstruktion erneut und gründlicher untersucht wurde, tauchten wieder Fragen zur Zukunft des Denkmals auf. Nunmehr bescheinigten Gutachter, dass die Brücke noch mehr als 30 Jahre den derzeit rollenden Zugverkehr aushalten könne.

„Kein Wunder“, sagt Frank Kotzerke vom Stadtforum Chemnitz. Etwa die Hälfte aller Stahlbrücken in Deutschland, die damals um die Jahrhundertwende gebaut worden seien, hätten ihre nominelle Lebensdauer von einhundert Jahren überschritten. Die Bahn kam auch aus einem anderen Grund in einige Erklärungsnot. Denn der Viadukt wird seit mehr als 60 Jahren nur zur Hälfte belastet.

Ursprünglich rollten die Züge auf vier Gleisen. Unter jedem Gleis liegt ein tragender Fachwerkbogen. Zwei der vier Gleise hatten die Sowjets nach 1945 weggerissen. Eine Reparationsleistung. So rollte der Zugverkehr bis Anfang der 1960er-Jahre nur über die beiden mittleren Viaduktbögen, nach der Elektrifizierung über die zwei nördlichen.

Mit dem Stadtforum und dem Verein Viadukt Chemnitz formierte sich nicht nur kompetenter Widerstand, auch im Rathaus ging man auf Distanz zu einem Brückenneubau. Zudem setzten mehr als 7 000 Chemnitzer ihre Unterschrift unter eine Petition und forderten, den Viadukt zu erhalten. Um das Projekt zu retten, eröffnete die Bahn eine Transparenzoffensive, lud zu Bürgerinformationen ein und arbeitete in einer neutralen Expertengruppe mit, in der man auch die Ziele des Neubaus hinterfragte. So sollen die Züge mit Tempo 140 und mehr über den Brückenbogen durch die Stadt rasen.

Auch der Cottbusser Professor Lorenz saß in dem Gremium. Er hat mit seinem Ingenieurbüro den denkmalgeschützten Hochbahnviadukt der Berliner U-Bahn-Linie 2 im Prenzlauer Berg von Grund auf saniert, ein ähnliches Projekt. „Dank großartiger Ingenieurleistungen“ sei es dort gelungen, das Bauwerk „mit innovativen Methoden funktional und ästhetisch tauglich für das 21. Jahrhundert zu machen“, urteilte die Jury, die Lorenz mit dem Projekt für den Deutschen Brückenpreis nominierte. Lorenz geht davon aus, dass der Chemnitzer Viadukt stehen bleiben kann. Anhand eigener Untersuchungen stimmten sogar die Vertreter der Bahn im Gremium Lorenz zu.

Dennoch beantragte die Bahn im November 2015 beim Eisenbahnbundesamt den Bau einer neuen Brücke – trotz stärker werdender Proteste. „Die DB Netz AG hat für die wirtschaftlichste Lösung das Planrecht beantragt“, heißt es in der zuständigen Pressestelle. Den Viadukt zu erhalten, sei „wirtschaftlich nicht zumutbar.“

Seither verhärten sich die Fronten. Nachdem der Antrag bekannt war, wandte sich die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig persönlich an Bahnchef Rüdiger Grube und bat, den Neubau zu überdenken. Grube ließ nur ausrichten: Die Erhaltung des Viaduktes und die jährlichen Unterhaltungskosten wären erheblich teurer als ein Neubau. Auf einen Brief Chemnitzer Abgeordneter aller Fraktionen reagierte die Bahn ähnlich abweisend.

Die Bahn glaubt, für 12,3 Millionen Euro die neue Brücke bauen zu können. Acht Millionen Euro mehr würde die Sanierung des Viaduktes laut Bahn kosten. Die Stadt hält dem entgegen, der Neubau werde erheblich teurer. Für die Sanierung habe der Konzern dagegen zu hoch kalkuliert. Der Cottbusser TU-Professor Lorenz führt zudem ins Feld, dass der Viadukt vor 55 Jahren letztmalig grundsaniert wurde. Bei jährlichen Instandsetzungskosten von 300 000 Euro hätte der Konzern all die Jahre rund 15 Millionen Euro nicht ausgegeben. Diese Einsparung müsste nun der Erhaltung zugutegerechnet werden.

Frank Kotzerke vom Stadtforum, selbst Architekt, vermutet einen weiteres finanzielles Motiv hinter dem unbedingten Willen, neu zu bauen. Der Neubau der Brücke würde erheblich mehr gefördert werden. Dem habe der Denkmalschutz bei der Erhaltung des Viaduktes nichts Vergleichbares entgegenzusetzen.

Tatsächlich entscheiden wohl ein paar Millionen Euro darüber, ob die in ihrer Art einmalige Eisenbahnbrücke erhalten bleibt oder nicht. Die Kosten seien in der Expertenrunde der einzige Punkt geblieben, in dem keine Einigkeit erzielt werden konnte, sagt Denkmalpfleger Michael Streetz, der an den Beratungen teilgenommen hatte. Er verweist darauf, dass der Viadukt zudem in erstaunlich gutem Zustand sei.

Ein Kompromiss ist nicht in Sicht. Der Denkmalschutz plädiert im laufenden Planfeststellungsverfahren dafür, den Viadukt unbedingt zu erhalten. Der Chemnitzer Stadtrat beschloss, dass es zum Erhalt des historischen Bauwerkes „keine Alternative“ gebe. OB Ludwig appelliert mittlerweile öffentlich an die Bahn, ihre Verantwortung für die Industriegeschichte der Stadt wahrzunehmen.

Nachdem Tausende Postkarten mit dem Viadukt an die Dresdner Staatskanzlei verschickt worden waren, macht sogar Regierungschef Stanislaw Tillich Druck. Wenn sie „für Stuttgart 21 oder für die Verlegung des Hamburger Bahnhofes Hunderte von Millionen Euros ausgibt, dann wirkt es schon verwunderlich, wenn die Bahn in Chemnitz einen Mehrbedarf von maximal acht bis zehn Millionen verweigert“, sagte Tillich der Leipziger Volkszeitung. Ein Abriss des Viaduktes sei gegen die erklärte Linie der von ihm geführten Landesregierung, so der Ministerpräsident in nicht alltäglicher Deutlichkeit.

Das Chemnitzer Stadtforum und der Viadukt e.V. initiieren in den kommenden Tagen eine Petition an den Bundestag. „In Berlin ist man aufmerksam geworden auf das, was der Staatskonzern in Chemnitz vorhat“, sagt Frank Kotzerke. Dort werde wohl über das Schicksal des Viaduktes entschieden werden, glaubt er. „Wir können nur hoffen, dass man ein so seltenes Denkmal nicht dem Abriss preisgibt.“