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Das Grauen nicht vergessen

Zwei Oberlausitzer wollen an ein trauriges Geschehen erinnern, für das es heute keine Zeitzeugen mehr gibt. Sie werden zwei jungen Frauen ein ganz besonderes Denkmal setzen.

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© Steffen Unger

Von Jana Ulbrich

Radibor. Plötzlich ist da ein Klopfen am Fenster, leise und zaghaft zuerst, dann immer lauter. Die Hausherrin, eine herzensgute und furchtlose Bäuerin, horcht auf. Wer mag das sein da draußen in diesem stockfinsteren, kalten Februarabend 1945. Ihr Hof in Strohschütz, das heute zu Radibor gehört, liegt abgelegen von der nächsten Ortschaft. Wer kommt in Kälte und Dunkelheit hierher? Vorsichtig öffnet die Bäuerin die Tür. Draußen steht eine junge Frau in Häftlingskleidung, erschöpft, abgemagert und schmutzig. Sie zittert am ganzen Körper. Die Bäuerin erkennt sofort die Not der jungen Frau. Schnell packt sie ein Paket belegte Brote und drückt es ihr in die zitternden Hände.

Die junge Frau heißt Bluma Zylberberg. Sie ist Tschechin, eine Jüdin aus Prag. Gemeinsam mit ihrer Schwester Rahel und mehreren Hundert anderen Frauen sind sie Häftlinge aus dem Außenlager Christianstadt des Konzentrationslagers Groß Rosen. Seit Tagen werden sie zu Fuß durch die Oberlausitz getrieben, von Schlesien kommend über Schmochtitz, Göda und Bischofswerda weiter ins Böhmische. Ein Todesmarsch über Hunderte Kilometer.

An diesem Februarabend kommt die Kolonne in Milkwitz an. Ihre Bewacher sperren die Frauen in eine Scheune. Rahel Zylberberg ist am Verhungern. Ihrer Schwester Bluma gelingt es, unbemerkt von den deutschen Soldaten zu entkommen. Mehr als drei Kilometer läuft sie bis zu diesem abgelegenen Hof in Strohschütz. Aber bei ihrer Rückkehr wird sie entdeckt und auf der Stelle erschossen. Ihre Schwester Rahel muss sie am nächsten Tag mit bloßen Händen begraben.

„Hier oben irgendwo muss die Grabstelle sein.“ Ludwig Sachße zeigt auf den kleinen bewaldeten Hügel, vor dem heute Cyrill und Methodius stehen, die beiden slawischen Heiligen, die zu den Patronen Europas gehören. Weithin sichtbar ist das beeindruckende Millenniumsdenkmal von Strohschütz. Aber mit dieser Geschichte hat es nichts zu tun. Nur dieser Ort hier. Und weil es dieser Ort ist, will Ludwig Sachße genau hier oben noch ein Denkmal bauen: eins für die Zylberberg-Schwestern. Der 72-Jährige aus dem nahe gelegenen Radibor ist ein beharrlicher Mann, einer der nicht locker lässt, der so lange bohrt und kämpft, bis er gewinnt. Und er ist zum Glück auch nicht allein. Sein Mitstreiter heißt Mathias Hüsni, ein Gleichgesinnter aus Burkau.

„So etwas muss man doch wissen“

Auch durch Burkau werden die Frauen auf ihrem Todesmarsch getrieben. Eine Hochschwangere entbindet hier. Das Neugeborene und die Frau werden sofort erschlagen und verscharrt. „Ich lebe schon mein Leben lang hier und habe das nicht gewusst“, sagt Mathias Hüsni und schüttelt ungläubig mit dem Kopf. „Niemand weiß das. Es steht auch nirgendwo in Burkau etwas darüber geschrieben“, sagt er. „Aber so etwas muss man doch wissen.“

Vor vier Jahren treffen sich Sachße und Hüsni zum ersten Mal. Mathias Hüsni, Lehrer für Ethik und Sport, hat in Bischofswerda einen Stolperstein für die jüdische Familie Hoffmann initiiert. Zum Verlegen ist auch Ludwig Sachße gekommen, der sich ebenfalls schon für einen Stolperstein engagiert hat – für die Sorbin jüdischer Herkunft Hana Schierz aus Horka bei Crostwitz. Die beiden Männer kommen ins Gespräch, und Ludwig Sachße erzählt die Geschichte der Zylberberg-Schwestern.

Er selbst trägt sie da schon über zehn Jahre mit sich herum. Er hört sie zum ersten Mal bei einem Vortrag des Historikers Hans Brenner über Todesmärsche durch Sachsen Ende des Zweiten Weltkriegs. Und sie lässt ihn nicht mehr los. „Wir setzen den Schwestern ein Denkmal“, sind die beiden Männer sich schnell einig. Sie suchen die Orte des Geschehens auf, sprechen mit den letzten Zeitzeugen, die sich erinnern können, unter anderem mit dem Sohn der hilfsbereiten, unerschrockenen Bäuerin aus Strohschütz. Inzwischen lebt keiner derjenigen mehr, die noch davon erzählen könnten.

Stein aus rotem Granit

„Wir haben am Anfang nicht gewusst, ob die Sache überhaupt machbar ist, und wie wir das finanzieren sollten“, erzählt Ludwig Sachße. Jetzt, vier Jahre später, treffen sich die beiden Männer am Millenniumsdenkmal zu den letzten Absprachen. Sie haben einen Stein aus rotem Granit ausgesucht. Sie haben die Geschichte der beiden Schwestern in 100 Wörter gefasst. Sie haben vom Grundstücksbesitzer, dem Cyrill-Methodius-Verein, die Genehmigung erhalten, das kleine Denkmal in der Nähe der vermuteten Grabstelle aufstellen zu dürfen. Sie haben sich Verbündete gesucht. Und nach einem Antrag bei der Stiftung Sächsische Gedenkstätten bekommen sie jetzt sogar Fördermittel.

Die beiden Männer haben sich auf einer der Bänke auf dem Hügel gesetzt. Was für ein herrlicher Blick das ist von hier oben. „Hier lang sind die Frauen weitergetrieben worden“, zeigt Ludwig Sachße die schmale Landstraße hinunter. Mit dem Historiker, der die Geschichte des Todesmarsches aufgeschrieben hat, ist er vor mehreren Jahren sogar selbst in Prag gewesen und hat dort mit Überlebenden gesprochen. „Manche hatten ihre Geschichte noch nie jemandem erzählt“, sagt er. Rahel Zylberberg war nicht dabei. Ludwig Sachße wird nachdenklich. „Wir wissen nicht, was aus ihr geworden ist, ob sie den Marsch überhaupt überlebt hat. Aber wir können dafür sorgen, dass sie nicht vergessen wird.“

Den 100-Wörter-Text haben die beiden Männer auch noch in drei weitere Sprachen übersetzten lassen: Ins Sorbische, ins Englische und ins Hebräische. So wird er auf dem Stein später von vielen Menschen zu lesen sein.

Gute Freunde geworden

„Es ist ein unglaublich gutes Gefühl, dass wir das geschafft haben“, sagt Mathias Hüsni. Das Gedenkstein-Projekt, sagt der 64-Jährige, das sei ihm längst eine Herzensangelegenheit geworden. Gerade auch jetzt, in einer Zeit, in der Neonazis wieder ungeniert Parolen skandieren, wollen die beiden Männer damit auch ein Zeichen setzen, sagen sie. Gerade hier in der Oberlausitz, die von jeher eine tolerante Gegend war, wo sich Katholiken und Protestanten sogar eine Kirche teilten. Mathias Hüsni klopft dem Mann neben ihm auf die Schulter. Er, überzeugter Atheist, und Ludwig Sachße, gläubiger Katholik, sind gute Freunde geworden über ihr großes Projekt.

Ludwig Sachße hält das Muster für die vier kleinen Schrifttafeln in den Händen. Sie haben es wirklich geschafft. Sachße, der eigentlich gar kein Freund großer Worte ist, wird in diesem Augenblick hier oben auf dem Hügel beinahe pathetisch: „Wenn meine Lebensuhr abgelaufen ist, dann gehe ich in der Gewissheit, das mir Mögliche getan zu haben“, sagt er leise. Muss nicht jede Generation die Erinnerungen an die nächste weitergeben?

Literatur: Hans Brenner: Todesmärsche und Todestransporte: Konzentrationslager Groß-Rosen und die Nebenlager

Die Einweihung des Denkmals ist für den 10. November dieses Jahres geplant, einen Tag nach dem 80. Jahrestag der Reichspogromnacht.