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Das ist eure Geschichte

Zum ersten Mal treffen sich in Dresden fast fünfzig Nachfahren von Victor Klemperer, der nicht nur viel Freude mit seiner Verwandtschaft hatte.

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© Robert Michael

Von Karin Großmann

Sprengstoff liegt auf dem Tisch. Das harmlos wirkende Papier dokumentiert die Erschütterungen eines Lebens; eines Jahrhunderts, das vorbei ist und doch nicht endet und viel mit jenen zu tun hat, die diesen Schriftstücken zum ersten Mal begegnen. Das Material stammt aus dem Nachlass von Victor Klemperer. Der Dresdner Philologe und Romanist lieferte mit seinen grausam nüchternen Tagebuchnotizen und mit dem sprachanalytischen Band „LTI“ Innenansichten der NS-Zeit. „Alles, was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles das floriert hier“, schrieb er 1933.

Sonnabendvormittag in der Dresdner Bibliothek am Zelleschen Weg. Einige Leute stehen im Innenhof in der Sonne. Sie unterhalten sich in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch. An manchen Blusen und Jacketts kleben weiße Schilder. Neben dem Namen steht ein zweiter, der auf die Herkunft verweist: Georg, Felix, Margarete, Hedwig, Berthold, Marta und Valeska.

Victor Klemperer hatte drei Brüder und vier Schwestern, die ein Kind oder mehrere Kinder hatten, die wiederum Kinder hatten … Irgendwie sind alle miteinander verwandt, diese Urururenkel des Onkels, die Großcousinen und Neffen, die sich jetzt im Vortragssaal der Bibliothek einen Platz suchen; 86 Jahre ist der Älteste, 13 der Jüngste, 47 Nachfahren sind es insgesamt. Sie kommen aus Großbritannien, Spanien, Deutschland, Schweden, Uruguay, aus der Schweiz und den USA. Manche haben einander seit Jahrzehnten nicht gesehen, andere noch nie. In dieser großen Runde treffen sie sich in Dresden das erste Mal. Der Schweizer Stephan Klemperer, der die Familienteile zusammenpuzzelte, überreicht dem Bibliothekschef Thomas Bürger Baseler Leckerli als symbolischen Dank. Bürger hat die Klemperers eingeladen. „Seine Tagebücher und die Familie an einem Tisch, da erfüllt sich gerade ein Traum.“

Es sei „ein gewaltiger Glücksfall und Fortschritt“, schrieb Victor Klemperer, als er 1920 in Dresden die ersehnte Professur antrat. Er glänzte mit Studien über die französische und italienische Literatur. Heute werden in seinem Namen die besten Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer der TU ausgezeichnet. Hans Müller-Steinhagen, Rektor der Uni, stellt sein Haus in einem kurzen Vortrag vor und sagt, wie gleichberechtigt und wichtig diese Wissenschaftszweige seien.

Auf dem Tisch liegt Victor Klemperers Hochschul-Entlassung von 1935, unterschrieben „im Namen des Reichs“ von Martin Mutschmann, der Sachsen als „Gauleiter“ regierte. Es ist eines dieser Papiere, die das Leben des Gelehrten grundsätzlich veränderten. In den Jahren darauf verlor er als deutscher Jude alles, was sein Selbstverständnis ausmachte. Akribisch notierte er jeden Schritt hin zum Abgrund. Verbot der Bibliotheksnutzung, Kino-, Radio-, Telefonverbot, Umzug in das sogenannte Judenhaus. So wurde er zum „Chronisten der Vorhölle“. Schweigend stehen seine Nachfahren um den Tisch.

„Es geht darum, zu wissen, was Menschen anderen Menschen angetan haben“, sagt der Medizinwissenschaftler David Klemperer.

In einem Karton stecken die mit Wachstuch bezogenen A5-Hefte der Tagebücher. „Es ist berührend, die Originale zu sehen“, sagt eine Frau mit Brille und kurzem Haar. Anne Klemperer kommt aus Kalifornien und arbeitet seit zwei Jahren als Wissenschaftlerin an der Uni Freiburg. „Das ist nicht irgendeine ferne Geschichte, hab ich meinen Töchtern immer gesagt, es ist eure Geschichte, die im Dritten Reich passierte.“ Sie stammt vom Ältesten der acht Klemperer-Geschwister ab; von Georg, der in Berlin als Chefarzt Karriere machte, der Lenin in Moskau behandelte und nach Amerika auswanderte; „sein Sohn war mein Opa“.

Das Verhältnis von Victor Klemperer zu seinen Verwandten war längst nicht so ungetrübt wie die Atmosphäre zwischen seinen Nachfahren an diesem Wochenende in Dresden. Abfällig schrieb er vom „Strebertum“ der älteren Brüder, die als Ärzte und Anwalt erfolgreich waren und ihn finanzierten. Er fühlte sich abhängig und bevormundet. „Sie betrügen mich um mein Leben“, schrieb er 1928. Da war er 47.

Was ein Klemperer war

Stephan Klemperer hat einen Stammbaum an die Wand projiziert, der bis ins frühe 19. Jahrhunderts zurückreicht. Der Familienname, erklärt er, war zuerst unter böhmischen Juden weit verbreitet: „Der Klemperer war der Klopfer, der morgens an die Fenster pochte und die Gläubigen zum Frühgebet weckte.“

Der Rabbinersohn Victor Klemperer trat früh zum christlichen Glauben über; für seine zweite Frau Hadwig ließ er sich im hohen Alter katholisch taufen.

Für die Nachfahren ist es nicht von Bedeutung. So erzählt es zumindest Peter Kahane, der einen Namen hat als Filmregisseur und unter anderem an den „Stubbe“-Krimis mit Wolfgang Stumph mitarbeitete. Kahanes Vater stammte von der Klemperer-Schwester Hedwig ab, war Journalist in der DDR, und wenn Victor Klemperer in Berlin zu tun hatte, übernachtete er bei der Familie. „Meine Eltern haben das Judentum ganz bewusst nicht gelebt“, sagt Peter Kahane. „Sonst hätten sie aus der Emigration nicht nach Deutschland zurückkehren können. Herkunft sollte künftig keine Rolle spielen; Menschen sollten gleichberechtigt sein.“ Kahane erinnert sich auch an Besuche in Dresden, an einen „sympathischen, freundlichen Mann mit feinem Humor. Victor Klemperer besaß Empathie, das merkt man als Kind.“

Was er seinen eigenen Kindern von diesem Erbe mitgegeben hat? Peter Kahane antwortet mit einer Episode: Bei einem Gespräch in New York berief sich seine Cousine auf Klemperers Ordnungssinn und Disziplin; ihr als Geigerin hätten diese deutschen Tugenden sehr geholfen. „Wir würden das hier nicht so sagen, aber es stimmt. Bei Klemperer lernt man, dass man das, was man tut, ordentlich tut.“

Papier ein seltener Artikel

Victor Klemperer selbst hatte keine Kinder. Er nannte das 1923 im Tagebuch „ein besonderes Schicksalsgeschenk“: „Wir sind unendlich viel freier so.“ Ende der Fünfziger schrieb er nicht eben begeistert vom Lärm, den die beiden Kahane-Jungs beim Besuch in Dresden veranstalteten. Peter Kahanes Bruder André entwarf Jahrzehnte später als Designer den Umschlag zu Klemperers Lebenserinnerungen „Curriculum Vitae“.

Interessiert liest er jetzt das Blatt, das auf dem Bibliothekstisch liegt: Es ist die Wohnungszuweisung, die Victor Klemperer im März 1950 für Dresden-Dölzschen erhielt, für jenes Haus, das er mit seiner ersten Frau Eva vor dem Krieg gekauft hatte. Der 86-jährige Peter Klemperer erzählt, dass er dort die schwarzen Tagebuchhefte seines Onkels sah, aber keinen Blick riskierte. Andächtig blättert er jetzt in einem der Hefte, die gleichmäßig mit einer winzigen Schrift bedeckt sind. Die Schreibmaschine hätte im „Judenhaus“ gestört. Sie war ohnehin bald verboten. Auch Papier, notierte Victor Klemperer, „wurde ein seltener Artikel“.

Auf dem Tisch liegt seine graue Kennkarte mit zwei Fingerabdrücken und dem großen Buchstaben J. „Man kann das alles schwer nachvollziehen“, sagt der 15-jährige Benjamin Klemperer. „Wahrscheinlich war es viel schlimmer, als man es sich vorstellen kann.“

Mit einem Bus fährt die Familie hinauf nach Dölzschen, wo Victor Klemperer wohnte und wo er 1960 neben seiner ersten Frau Eva begraben wurde. Wie eine Prozession zieht sich die Gruppe dahin. Einzelne kleine Steine liegen auf dem großen Grabstein. Der Spruch stammt aus einer Ballade von Moritz Graf von Strachwitz: „Du bist mir immer gegangen voran, o Herz, bei Tag und Nacht.“ Der melancholisch-versöhnliche Satz führt in die Alltagsnormalität zurück.