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Das ostdeutsche Opfer ist der neue Held

Viele Ostdeutsche fühlen sich von "oben" gegängelt - was eine Partei geschickt ausnutzt. Doch die Ursachen liegen selten in der Gegenwart. Ein Gastbeitrag.

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Gewagte These: Schleppen Kinder der DDR Traumata mit sich rum, weil sie Halstücher trugen und zum Fahnenappell antreten mussten? Wuchsen sie zu Eltern heran, die ihrem Nachwuchs nur selten beistanden? Die Kinder auf dem Foto sind Statisten im Film „Helden
Gewagte These: Schleppen Kinder der DDR Traumata mit sich rum, weil sie Halstücher trugen und zum Fahnenappell antreten mussten? Wuchsen sie zu Eltern heran, die ihrem Nachwuchs nur selten beistanden? Die Kinder auf dem Foto sind Statisten im Film „Helden © dpa

Von Matthias Lohre

Für Björn Höcke hat die Apokalypse längst begonnen. Die deutsche Geschichte, klagte der starke Mann des völkischen AfD-Flügels schon 2017 in Dresden, würde „mies und lächerlich gemacht“. Politiker wie Angela Merkel hätten „unser gutmütiges Volk heimtückisch hinters Licht geführt“. Deshalb stehe Deutschland schlimm da: „Unser liebes Volk ist im Inneren tief gespalten und durch den Geburtenrückgang sowie die Masseneinwanderung erstmals in seiner Existenz tatsächlich elementar bedroht.“ 

Die Westdeutschen hält Höcke, selbst Westfale, für moralisch korrumpiert und verweichlicht. Retten könnten das Vaterland daher allein Ostdeutsche. „Wenn es noch mal eine Erneuerungsbewegung gibt, die von Erfolg gekrönt sein könnte, dann wird sie ihren Ursprung hier in Dresden, hier auf dem Gebiet der ehemaligen DDR haben.“ Ihr Ziel: „Ein vollständiger Sieg“ der AfD. Höckes Dresdner Rede vom 17. Januar 2017 offenbart einen düsteren Blick auf die Welt. Der 47-Jährige wähnt seine Landsleute in einem tödlichen Duell gegen finstere Mächte. Zugleich kürt er die Ostdeutschen zu moralisch integren Rettern des Vaterlands. Das Opfer ist der neue Held.

Rund ein Viertel der Wählerinnen und Wähler in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stimmten bei den Landtagswahlen 2019 für die AfD. Das taten sie aller Wahrscheinlichkeit nicht trotz Höckes Gut-gegen-Böse-Rhetorik, sondern gerade deswegen. Der beurlaubte Gymnasiallehrer verbreitet seine Ansichten seit Jahren, und seine „Flügel“ genannte Parteiströmung gewinnt AfD-intern immer mehr Macht. Aber was genau macht es so attraktiv, sich als Opfer zu verstehen? Und was ist daran so gefährlich?

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall betrachten wir noch immer viel zu selten die seelischen Wunden, die mehrere Generationen von Deutschen im 20. Jahrhundert erlitten haben. Zwar erzählen viele alt gewordene Kriegskinder endlich von ihren Todesängsten in Bunkern oder Flüchtlingstrecks. Und deren Töchter und Söhne, die sogenannten Kriegsenkel, beginnen zu verstehen, wie das verdrängte Leid ihrer Eltern auch sie bis heute prägt. Doch wie Traumata entstehen und über Generationen fortwirken, interessiert nur eine Minderheit. Besonders gering ist das Verständnis im Osten. Als 2012 Psychologen und Therapeuten in Göttingen zu einer ersten Tagung über die Kinder der Kriegskinder zusammenkamen, fand sich kein ostdeutscher Teilnehmer ein. Das hat seine Gründe.

Verordnetes Schweigen vergiftet

Im Osten folgten den tief verstörenden Kriegserlebnissen viele weitere. Schon 1950 erklärte die SED-Führung, sie habe „die Wurzeln des Faschismus ausgerottet“. Die DDR inszenierte sich als moralischer Sieger eines hundertjährigen Klassenkampfs. Doch je länger der Staat währte, desto brüchiger wurde dieses Selbstbild. Wenn im Osten das sozialistische Paradies war, warum prangten in den Schaufenstern westdeutscher Geschäfte dann so viel mehr und bessere Waren? Wenn der Faschismus „ausgerottet“ war, warum gehörten der SED zeitweise mehr als 100.000 ehemalige NSDAPler an? Und wenn es hierzulande nur freie Menschen gab, warum durften sie dann nicht offen reden, beispielsweise über das Leiden der 4,4 Millionen Menschen, die bis 1947 aus den Ostgebieten und dem Sudetenland hierher flohen? Das entsprach jedem vierten Einwohner – proportional weit mehr als im Westen. Doch weil es Geflüchtete offiziell ebenso wenig gab wie Ex-Nazis, durfte über sie auch nicht gesprochen werden.

Das verordnete Schweigen vergiftete die Atmosphäre im Land. Die „sozialistischen Persönlichkeiten“ der DDR erwiesen sich als das Gegenteil der Propaganda: nicht geradeheraus, selbstbestimmt und optimistisch, sondern gehemmt, unterwürfig und misstrauisch. Bei deren Erziehung arbeiteten Schulen und Eltern auf fatale Weise zusammen. „Die meisten Eltern waren selbst Opfer repressiver Erziehung“, sagt Hans-Joachim Maaz, „und sie waren in einer Gesellschaft zu leben genötigt, die nur Anpassung und Unterwerfung belohnte.“ Maaz arbeitete vor und nach der Wende als Psychoanalytiker in Sachsen. Dabei beobachtete er, wie früh traumatisierte Eltern unbewusst ihre Kinder traumatisierten. Weil ihnen der eigene Wille abtrainiert worden war, konnten sie diesen auch nicht ihren Töchtern und Söhnen zugestehen. „So war ihr Erziehungsstil unbewusst meist darauf gerichtet, die Kinder so schnell wie möglich zu disziplinieren“, also „letztlich ‚unlebendig‘ zu machen. Das beste Kind war dann der ‚kleine Erwachsene‘, der die Eltern nicht mehr durch unverfälschten Lebensausdruck an ihre eigene Entfremdung erinnern konnte.“

Dabei übernahm die DDR Traditionen der Nazizeit, etwa bei der Kleinkindpflege. „Zu dem unheilvollen Ineinander von gesellschaftlicher und familiärer Repression gehörte auch, dass den Kindern in der Regel der Rhythmus der Eltern und der sozialen Zwänge rigoros aufgenötigt wurde“, urteilt Maaz. „Von vorgeschriebenen Stillzeiten, Schlafenszeiten, ‚Topf‘-Zeiten bis zu den Rhythmen, die eine berufstätige Frau einzuhalten genötigt war.“ Die Ziele dieser Erziehung waren „Selbstbeherrschung, Kontrolle, Tapferkeit, Härte und Fügsamkeit gegenüber der Autorität und Niemals-Aufbegehren“.

Schlimmes Versagen der Eltern

Der Sieger-Staat produzierte Opferhaltungen. „Lärmen, Schreien und Toben wurden zumeist als störend und unanständig empfunden und entsprechend gerügt“, erinnert sich Maaz. „Weinen wurde lächerlich gemacht, zur Unterdrückung gemahnt oder durch zudeckenden Trost verhindert.“ Wieder lernten deutsche Kinder, Wut, Freude, Trauer, Angst zu verdrängen. „Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk“, bilanziert der Psychoanalytiker. „Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hatte.“

Die in Form gepressten Kinder wuchsen heran zu Eltern, die ihrem Nachwuchs nur selten beistanden. Schlechte Beurteilungen in der Schule waren ihnen peinlich, weshalb sie den Druck auf ihre Töchter und Söhne noch erhöhten. „Das war für viele Kinder eine herbe Enttäuschung und hat das Vertrauen zu ihren Eltern untergraben“, urteilt Maaz. „Gerade dieses Versagen der Eltern hat bei den Kindern Ohnmachtsgefühle verfestigt.“

Weil meist beide Elternteile arbeiteten, kümmerten sich in vielen Fällen die Großeltern um ihre Enkel. Bei den Alten suchten viele Junge den Halt, den sie bei ihren Eltern so sehr vermissten. Dort hörten sie vielfach Geschichten von Flucht und Vertreibung, auch von den Segnungen des Hitler-Reiches und nationaler Größe. Was die Großeltern erzählten, empfanden sie als besonders glaubwürdig und die Parolen von der „unverbrüchlichen Freundschaft mit dem Sowjetvolk“ zunehmend als Lüge.

Der Nationalsozialismus wirkte auf viele Junge andersartig und zugleich vertraut. Auch er stand, seinem Selbstverständnis nach, für Gemeinschaftssinn, Loyalität und Treue. Auch er steckte Kinder in Uniformen, ließ sie aufmarschieren, lehrte sie Gehorsam und Genügsamkeit und die Übel des westlichen Individualismus. Je aussichtsloser vielen Jungen das Leben in der DDR erschien, desto größer wurde die Neonazi-Szene. Schon 1988 ergab eine von der SED-Führung in Auftrag gegebene Untersuchung, dass 30 Prozent der DDR-Bürger rechte Aktivitäten guthießen. Knapp ein Achtel fand, „der Faschismus hatte auch gute Seiten“. Ebenso viele erklärten, „Hitler wollte das Beste für das deutsche Volk“.

Härte gegen Haltlosigkeit

Als die Mauer fiel, brach der alte Obrigkeitsstaat vielerorts einfach in sich zusammen. Vor allem in ländlichen Gebieten drängten Skinheads und andere Neonazis rasch ins Vakuum. Sie setzten ihrer inneren Haltlosigkeit äußere Härte und Entschlossenheit entgegen, dem allgemeinen Gefühlsstau offene Aggression, beschämender Ohnmacht einen Kult der Stärke, der Vereinsamung in der Masse die Zugehörigkeit zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Mit Gewalt lehrten sie ihre Mitbürger die alte deutsche Lektion, dass es besser war zu schweigen.

„Nicht jeder, der eine verdrängte Familiengeschichte hat, wird automatisch rechts“, sagt der Theologe Joachim Süss. „Aber wenn man Verletzungen verdrängt, entsteht daraus eine große Härte. Man hat weniger Mitgefühl für Menschen in Notsituationen. Die Betroffenen können keine Sensoren dafür entwickeln, was Flucht und Vertreibung bedeuten und werden hart, oder sie müssen das Leid heutiger Flüchtlinge abwehren, um nicht in Kontakt mit ihrem eigenen Leiden zu kommen.“

Wenn Björn Höcke Ostdeutsche zu Unterdrückten erklärt, deren Zeit gekommen ist, spricht er also verdrängte Traumata an. Er verspricht Erlösung von tiefer Seelenqual. Doch sein Versprechen muss unerfüllt bleiben. Denn die bösen Mächte, von denen viele AfD-Wähler sich drangsaliert fühlen, lauern nicht dort draußen, sondern in ihnen selbst. Viele ihrer Wunden wurden vor Jahrzehnten geschlagen. Das erklärt auch, warum paradoxerweise so viele Menschen ausgerechnet heute, da sie freier denn je ihre Meinung äußern dürfen, ihre Unterdrückung beklagen. Wir können unsere emotionalen Wunden aber nur versorgen, wenn wir wissen, dass es sie gibt, wie wir sie aufspüren und wie wir mit ihnen umgehen. Jede Stimme für Höckes AfD ist daher auch ein Appell, endlich über lange Verdrängtes zu reden.

Unser Autor: Matthias Lohre (43) ist Autor und Journalist. Sein Buch „Das Erbe der Kriegsenkel“ wurde zum Bestseller. In „Das Opfer ist der neue Held“ geht er jetzt der Frage nach: Was passiert, wenn ganze Gesellschaften ihr Seelenleid verdrängen?

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