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Das rebellische Viertel

Der Leipziger Stadtteil Connewitz hat sich eine Subkultur erhalten, die ihresgleichen sucht in Sachsen. Aber in dem Viertel leben auch Autonome, die sich zunehmend radikalisieren. Zwischen Kiezromantik und Straßenschlacht.

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© Sebastian Willnow

Von Thomas Schade

Die Ansage kann deutlicher nicht sein: „No Cops. No Nazis. Antifa Area.“ Grell leuchten die Botschaften vom Streetballplatz am Connewitzer Kreuz. Hier, wo die Karl-Liebknecht-Straße endet, wo Wolfgang-Heinze-Straße und Bornaische Straße beginnen und stadtauswärts führen – hier fängt das rebellische Viertel von Leipzig an.

Spontan und oft vermummt: Schon 2014 kam es in der Neujahrsnacht zu Randalen.
Spontan und oft vermummt: Schon 2014 kam es in der Neujahrsnacht zu Randalen. © dpa
Roter Stern Leipzig regiert.
Roter Stern Leipzig regiert. © Thomas Schade

Wie dieser Kiez tickt, ist an jeder Straßenecke zu beobachten. Kaum eine Hauswand, die Sprayer und Schmierfinken verschont haben. Sprüche wie „Straßen sauber halten, Nazis recyceln“ sind da zu lesen. Kein Verkehrsschild, auf dem Faschos nicht zum Teufel geschickt und Flüchtlinge willkommen geheißen werden. Wo die Stadtväter sitzen, in der Außenstelle des Rathauses, haben die Mitarbeiter längst aufgehört, die Fassade zu reinigen. Stattdessen sind alle Fenster im Erdgeschoss vorsorglich vergittert. In der Wiedebach-Passage sitzt die Polizei im ehemaligen Bürgerbüro. Ein Beamter mustert argwöhnisch die Straße. Er schiebt seine Schicht im heißesten Polizeiposten der Stadt. Hinter getönten Scheiben ist eine Kamera aufgebaut. Sie ist sofort einsatzbereit und soll Beweise sichern, sollte die Polizeistation wieder einmal angegriffen werden. 16-mal ist das schon passiert – innerhalb eines Jahres. „Bulle, Dein Duldungsstatus ist aufgehoben ...“, schrieben die Täter nach dem letzten Überfall in einem Bekennerschreiben. Ein paar Meter neben der Wache steht die Kampfansage an der Wand: „Ausländische Cops Arbeiten Billiger“. Dabei kommt es auf die Anfangsbuchstaben an: ACAB – „All Cops Are Bastards“, die gängige Liebeserklärung der autonomen Szene an die Ordnungsmacht.

Nur die Paul-Gerhard-Kirche, so scheint es, bleibt von Hassparolen und greller Kunst aus Farbdosen verschont. „Wir sind Teil der Gemeinde, machen mit, wenn es gilt, die Interessen des Stadtteils zu vertreten, auch wenn die linksalternative Szene dazu aufruft“, sagt Pfarrer Christoph Reichel. „Das wird offenbar akzeptiert.“ Die Gemeinde ist bei Straßenfesten und Adventsmärkten dabei. Pfarrer Reichel kennt den Spannungsbogen zwischen Gutbürgerlichkeit und unangepasster Lebensweise. Er bestimme das Leben der Menschen hier.

Der Kiez im Süden zwischen Auenwald und der S-Bahn-Linie nach Markleeberg gilt als eine der letzten Bastionen linksalternativer Lebenskultur im Osten. Soziokulturelle Projekte wie Conne Island oder das Werk 2 und der örtliche Sportverein Roter Stern sorgen für den Herzschlag im Viertel. Studenten, Gewerbetreibende, Klein- und Lebenskünstler, Punker und radikal antideutsch tickende Antifas prägen das Image und drängen das alteingesessene Leipziger Bürgertum in die Rolle toleranter Beobachter. Dabei hatten Gutbetuchte vor 150 Jahren hier malerische Landhäuschen bauen lassen, um dem lärmenden Stadtzentrum zu entfliehen.

Heute leben Eigenheimbesitzer und Alternative Tür an Tür. So wie in der Fockestraße, mit „WA.G.I.N.A.“ auf der einen und schicken Stadthäuschen auf der anderen Straßenseite. „WA.G.I.N.A.“ steht am Eingang der Bauwagenkolonie „gegen ignorante nationalistische Arschlöcher“. Die Postfrau darf hier dreimal klingeln, wenn sie ein Paket los werden will. Neugierige sind eher unerwünscht und werden mit „Verpiss dich“ verabschiedet.

Ein mutiges „Verpiss dich“ nahm vor mehr als 25 Jahren auch Sascha Lange in den Mund, um einem jungen Neonazi das Fürchten zu lehren. Punks, so schreibt Lange im Internet, hätten in den 1980er-Jahren das Anarchische im Kiez erweckt und den Mythos Connewitz begründet. Lange wuchs hier in dem Stadtteil auf, der faktisch zum Abriss freigegeben war, lebte unter jungen Leuten mit Irokesenschnitt und zerrissenen Röhrenjeans. Später studierte er Geschichte, promovierte und gilt heute als Kenner der Leipziger Jugendkultur.

Anfang 1990 kursierte unter Alternativen eine Liste von Häusern, die man besetzen wollte, um den Abriss zu verhindern. Daraus seien etwa 15 Projekte in Connewitz entstanden, die „zur Insel für Hippies, Gruftis, Punks und junge Linke abseits der Parteien“ wurden. Selbstverwaltete Freiräume, Plätze für politische Alternativen, Orte für Fun und Action. Kein Lebensstil für Neonazis. Die überfielen bald die besetzten Häuser, wie in der Stockartstraße. Aus den Häusern wurden Festungen, aus der Action wurde Selbstschutz, Selbstjustiz, Straßenkampf, autonome Gewalt. Die Polizei, der Staat, Investoren – alle, die das Refugium bedrohten, wurden zu Feinden. Eine Schneeballschlacht 1992, so Sascha Lange, sei zum schwersten Straßenkampf seit 1953 eskaliert. Fast gleichzeitig wuchsen soziokulturelle Projekte aus dem Boden und Hausbesetzungen wurden legalisiert.

Wer heute nach Connewitz zieht, tickt eher links und verfügt über viel Toleranz. So etwas wie ein Burgfrieden hält die Menschen zusammen, und eine Interessengemeinschaft versucht seit fast 20 Jahren, die unterschiedlichen Ambitionen von Investoren und alternativer Szene, Alt-Eingesessenen, Gewerbetreibenden und Sanierungsträgern im Gleichgewicht zu halten. Allein über den Bau des Streetballplatzes diskutierte man sechs Jahre lang kontrovers. Im Kiez wird er inzwischen als „Käfig“ geschmäht, weil er nur stundenweise geöffnet ist, höchstens bis 21 Uhr.

Doch seit einem Jahr gerät der Burgfrieden immer wieder in Gefahr. Als Ausgangspunkt gilt ein anonymer Aufruf zur Gewalt wenige Tage vor Weihnachten 2014 im Internet. „Zerschlagt die Fassade einer kaputten Welt“, heißt es in dem Pamphlet. Verschwurbelt und apokalyptisch argumentieren die Autoren, dass „die bürgerliche Fassade Europas und Deutschlands bröckelt“. Autonome wollten da „nicht der billige Kitt sein, der versucht, die Risse zu überkleben.“ Sie wollten „nachtreten“, um „den Einsturz der Fassade zu beschleunigen.“

Der für Silvester 2014 angekündigte „Angriff auf den deutschen Schein einer heilen und friedlichen Welt“ blieb aber aus – wohl auch, weil die Akteure 50 Ziele mit Adresse im Netz genannt und damit vermutlich konkrete Aktionen verraten hatten. In einem weiteren Traktat, verfasst von „autonomen Gruppen“, werden „zielführende Aktionen“ als „zukunftsweisend“ bezeichnet. Sie sollen Angriffe im Rahmen von Spontandemonstrationen ablösen.

Seither mehren sich Attacken gegen Ziele, die zum Feindbild autonomer Gewalttäter zählen. Ins Visier gerieten Filialen von Versicherungen und Banken. Als am 7. Januar 2015 Steine, Farbbeutel und Feuerwerkskörper gegen den Polizeiposten flogen, waren nur zwei Beamte anwesend und in höchster Not. Der Streifenwagen stand in Flammen. Zu Hilfe eilende Kollegen fuhren mit ihren Fahrzeugen über ausgelegte Krähenfüße und hatten platte Reifen. Eine Woche später marodierten 800 meist Vermummte durch die Stadt und veranstalteten eine sogenannte Scherbendemo. Diesmal traf es die Justiz, auch das repräsentative Bundesverwaltungsgericht. Im April gingen Dutzende Scheiben der Leipziger Ausländerbehörde zu Bruch.

Sachsens Verfassungsschützer beobachteten in der ersten Jahreshälfte 19 Angriffe auf Institutionen des Rechtsstaates und führten sie auf die Mobilisierung der Szene nach dem „Aufruf zur Gewalt“ zurück. In den sechs Monaten nach dem Aufruf habe sich die Zahl linksextremistischer Gewalttaten verdoppelt.

Am 5. Juni wurde der CDU-Abgeordnete Ronald Pohle Zeuge, wie Autonome und Polizisten vor dem US-Generalkonsulat aneinander gerieten. Ein Bus voller Touristen rollte zwischen die Fronten und büßte dabei seine Frontscheibe ein. Eine Woche später schilderte Pohle im Landtag: „Für mich war es fast schon ein militärisch organisierter Angriff auf unsere Gesellschaft.“ Sein Fraktionskollege Christian Hartmann resümierte: Seit Jahresbeginn seien 81 der 95 in Sachsen registrierten linken Straftaten in Leipzig verübt worden. Hartmann: „Wir haben ein linksextremistisch autonomes Problem in Leipzig.“

Anfang August bekannten sich „einige Autonome“ im Internet zum Angriff auf die Firma der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry in Leipzig-Plagwitz. „Wir hinterließen ... neben ein paar zerstörten Scheiben, einen neuen Anstrich sowie ein wohlriechendes Aroma innerhalb der Räume“, hieß es da.

Mit Mainstream-Medien, wie dieser Zeitung, wollen Autonome nicht viel zu tun haben. Anfragen bei Gruppen wie „the future is unwritten“ blieben unbeantwortet. In der Szene selbst besteht offenbar erheblicher Redebedarf, sodass Conne Island, das älteste alternative Jugendzentrum im Kiez, zur Diskussion über „Gewalt, Militanz und emanzipatorische Praxis“ einlud. Drei Stunden lang debattierte das Publikum unter anderem mit der Linken Jutta Dittfurth über solche Fragen wie: „Machen die Richtigen alles falsch?“

Allein die meist schwarz uniformierten autonomen Gewalttäter machten weiter. Anfang Dezember tauchte ein Video auf, das zeigte, wie ein Leipziger NPD-Mann in seinem Büro auf übelste Weise zusammengeschlagen wird. Im Dezember bekannten sich „autonome Gruppen“ zu dem Überfall auf die Wohnung eines Legida-Aktivisten, die sie mit einer Axt und sechs Liter Bitumen verwüstet hatten. Etwa zu dieser Zeit kürte ein sogenanntes „Komitee der 1. Liga für Autonome“ die Leipziger Autonomen zum „Randalemeister 2015“.

In der Leipziger Polizeidirektion hat man für den Titel keinen Beifall übrig. „Wir haben nichts gegen Subkultur und alternative Freiräume“, sagt Leipzigs Polizeichef Bernd Merbitz, „aber wenn eintausend Linksautonome vermummt und mit faustgroßen Pflastersteinen gegen Beamte vorgehen, dann ist das nicht zu tolerieren.“ Die Polizei schätzt, dass mindestens 170 gewaltbereite Autonome in dem Viertel verwurzelt sind. Es seien junge Leute aus fast allen gesellschaftlichen Schichten, die die Szene auf ihrem Weg zur Selbstfindung durchlaufen würden.

Jugendforscher glauben, dass viele den Weg in die Szene suchen, weil sie von demokratischen Strukturen enttäuscht sind. In den autonomen Cliquen würden Gesellschaftskritik und ein exklusiver Wahrheitsanspruch dominieren, und Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung mit den erklärten Gegnern akzeptiert. Merbitz: „Wir registrieren mit Sorge, dass sich die Gewalt zunehmend gegen Personen richtet.“

Nachdem Neonazis und Hooligans am 11. Januar das Refugium der Szene angegriffen hatten, befürchtet die Leipziger Polizei, dass die Gewalt in der Szene weiter eskaliert. An dem Tag hatten 250 vermummte Hooligans den Fußballverein Roter Stern angegriffen und zahlreiche Schaufenster entglast. Die Neonazis feierten danach im Internet, sie hätten die „Leipziger Hurensohn-Antifa platt gemacht“.

Erste Racheaktionen fanden bereits statt. In der Nacht zum 4. Februar stand der Mercedes eines 30-jährigen Neonazis in Flammen. Das Auto war am 11. Januar in Connewitz aufgefallen. Der dazugehörigen Meldung im Internet ist zu entnehmen, dass Autonome und Antifa dabei sind, die Täter vom 11. Januar zu identifizieren. „Entsprechende Maßnahmen werden folgen“, heißt es da, und: „Nicht nur die Bullen jagen euch.“

Tage nach dem Angriff, viele eingeschlagene Scheiben waren noch zu sehen, standen Biertische und Bänke auf den Straßenbahnschienen in der Wolfgang-Heinze-Straße. Anwohner und Gewerbetreibende hatten zum Frühstück eingeladen. Man solidarisierte sich miteinander bei Kaffee und Kuchen. Mittendrin Jungs und Mädchen mit roten Springerstiefeln, schwarzen Lederjacken und Kapuzenshirt. Da war sie urplötzlich wieder, die Kiezromantik.

Doch auch Anwohner leben in Sorge. „Wohin soll das führen?“, fragt ein Handwerker, der dieser Tage in der Selneckerstraße Pflastersteine verlegt. Die Leute hier hätten es satt, sagt er und: „Früher hätte man die alle in die Braunkohle gesteckt“.