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Den Krieg ohne Worte verstehen

Die Pirnaer Theatermacher gastieren im Dresdner Albertinum. Eine Herausforderung für sie – und die Zuschauer.

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© Robert Michael

Von Heike Sabel

Ein Junge mit verbundenen Augen in einem viel zu großen Sakko wird von einem Mann geführt. In einer Ecke flicht ein Mädchen einem anderen einen Zopf. Eine Frau strickt. Eine andere schrubbt die Treppe. Insgesamt sieben Personengruppen. Familien. Freunde. Alle sind stumm.

Nur ein Klagegesang hallt durch das Treppenhaus des Albertinums in Dresden. Die zu Zuschauern gewordenen Museumsbesucher folgen dem Geschehen. Überrascht, verunsichert, neugierig. Einigen werden die Augen verbunden. Sie werden geführt. Ohne zu sehen durch eine Ausstellung, die Bilder zeigt? Eine der Fragen, die sich stellt, auf die die Pirnaer Theatermacher mit ihrer Performance in der Otto-Dix-Ausstellung im Albertinum aber keine fertige Antwort geben.

Einer der Besucher, der sich darauf eingelassen hat, ist Hauke Meyer. Vorsichtig wird er geführt. Sieht in der Ausstellung nicht das, was die anderen sehen. Nicht die aufgerissenen Münder. Aber er hört die Schreie aus dem Film, der in der Ausstellung gezeigt wird. Der junge Mann wird das Gefühl haben, etwas zu verpassen, immer angeschaut zu werden.

Die sieben Gruppen gehen durch die Ausstellung. Stumm. Besucher wissen manchmal nichts mit ihnen anzufangen, beobachten sie dann doch. Nach und nach fällt in den sieben Gruppen jeweils ein Mensch um. Legt sich auf den Boden. Ganz still. Ein anderer aus der Gruppe nimmt einen Knäuel und legt ihn um die auf dem Boden liegende Person. Mit dem Garn wird ihre Kontur gezeichnet. Das Garn wird zum Lebensfaden. Irgendwann wird der Faden wieder aufgewickelt, der Tote steht wieder auf.

„Ich habe nichts damit zu tun“

Das mit dem Faden war eigentlich anders gedacht. Die Theatermacher wollten Kreide nehmen. Doch damit hatte das Albertinum ein Problem. Schließlich lässt sich Kreide nicht so unkompliziert wieder entfernen. Die Theatermacher mussten umdisponieren. Nicht nur einmal. Der Aufwand für diese ungewöhnliche Inszenierung war immens groß, sagen die Vereinsleute. Aber auch das ist eine Herausforderung. Die Performance wurde durch Veränderungen immer besser. Der Faden ist als Symbol passender als die Kreide. Die mit Kreide nachgezeichneten Konturen erinnern an Unfälle oder Morde. Ein Unfall war der Erste Weltkrieg nicht, kein Krieg ist ein Unfall. Aber jeder in Kriegen Umgekommene ist ein Ermordeter. Trotzdem geht das Leben danach weiter. Auch wenn kein Toter wieder aufersteht. Wie das Leben weitergeht, entscheiden die, die überleben.

Es dauert eine Weile, bis man als Zuschauer aufhört, auf Erklärungen zu warten und sich selbst nachhört, die Gedanken und Gefühle zulässt, die einem kommen. Auch das Unverständnis zulassen für Symbole, die man nicht versteht. Krieg ist Unverständnis.

Zum Schluss werden dann doch Worte gesprochen. Der blinde Junge in dem großen Männersakko sagt ins Megafon: „Alle Männer unter 60 Jahre haben sich zum Wehrdienst zu melden.“ Eine Reporterin fragt die verstörten Überlebenden: „Was fühlen sie?“ Ein junges Mädchen antwortet mehrmals: „Ich habe nur noch dieses Kleid. – Nichts ist mehr, wie es war. – Mein Stolz ist ungebrochen.“ Ein anderer antwortet: „Ich bin unversehrt, aber es tut weh. Lassen Sie mich in Ruhe.“

Der Dritte: „Ich habe nichts damit zu tun.“ Die Vierte: „Ich habe nichts gesehen, ich werde nichts sehen.“ Die Antworten kommen einem bekannt vor. Es gibt auch dazu keine Erklärungen. Die muss man selbst suchen und finden. Muss sich Dix’ Kriegs-Triptychon ansehen, spüren, hören, um ein Gefühl zu bekommen. Für den Krieg. Den draußen, den in uns.

Ausstellungsbesucher Hauke Heyer ist wieder im Sehen angekommen. Er fühlte sich ausgeliefert und abhängig, als er nicht sehen konnte. Er konnte nicht sehen. Nicht sehen wollen kann man auch mit den Augen. Um Krieg zu verstehen, braucht es keine Worte.

Ausstellung: „Otto Dix. Der Krieg. Das Dresdner Triptychon.“ im Albertinum Dresden, bis 13. Juli,
Performance der Theatermacher: 21. Juni, 16 Uhr