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„Den Opfern ein Gesicht geben“

Ein neues Buch schildert Ausgrenzung und Vernichtung der Bautzener Juden.

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Es begann vor 80 Jahren –  am 1. April 1933 riefen die Nationalsozialisten erstmals zum reichsweiten Boykott aller jüdische Geschäfte, Ärzte und Anwälte auf. Auch in Bautzen. Es war der erste Schritt zum späteren Massenmord an sechs Millionen Juden in Deutschland und Europa.

Bautzen am 10. November 1938: Juden werden durch die Schulstraße getrieben. Die Schmähschriften auf den Plakaten wurden im Nachhinein retuschiert, so dass sie nicht mehr lesbar sind. Quelle: Museum Bautzen/Anonymer Fotograf
Bautzen am 10. November 1938: Juden werden durch die Schulstraße getrieben. Die Schmähschriften auf den Plakaten wurden im Nachhinein retuschiert, so dass sie nicht mehr lesbar sind. Quelle: Museum Bautzen/Anonymer Fotograf

„Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung – Bautzener Juden im Zeichen des Hakenkreuzes“ heißt ein neues Buch, das dieses Geschehen aus lokaler Perspektive beschreibt. Die SZ sprach mit dem Verfasser, dem Museologen Hagen Schulz.

Herr Schulz, was passierte am 1. April 1933 in Bautzen?

An diesem Tag postierten sich SA-Männer vor den 21 Unternehmen mit jüdischen Geschäftsinhabern – vom Kosmetiksalon bis zur Altwarenhandlung. Manche der Bewacher hatten Kameras dabei und fotografierten die Leute, die in die Geschäfte wollten. Die Bilder wurden in den Anschlagkästen der Wochenzeitung „Der Stürmer“ ausgehängt, um die Kunden anzuprangern. In den „Bautzener Nachrichten“ erschien ein Verzeichnis aller jüdischen Firmen – mit dem Aufruf, sich am Boykott zu beteiligen.

Wie reagierten die Bautzener?

Viele ignorierten den Aufruf. Doch es gab auch die andere Seite. Der mit den Amtsgeschäften des Oberbürgermeisters betraute Dr. Walter Förster verbot seinen Amtsleitern und den Mitarbeitern der Stadt in jüdischen Unternehmen einzukaufen.

Wie viele Juden lebten 1933 in Bautzen?

1939 fand eine Volkszählung statt. Auf Basis der Nürnberger Rassengesetze stufte man von 40 260 Einwohnern 42 als Volljuden, 17 als Halbjuden und 15 als Vierteljuden ein. Außerdem gab es jüdische Familien in Kirschau, Wilthen, Großharthau und Bischofswerda. Viele dieser Menschen wurden wegen ihrer Abstammung zu Juden erklärt, obwohl sie zum Teil Christen oder konfessionslos waren.

Die Nürnberger Gesetze schlossen die Juden aus dem öffentlichen Leben aus. Sie wurden zur „Rasse“ erklärt, Eheschließungen mit Nichtjuden verboten. Gibt es dafür Beispiele in Bautzen?

Ja, so standen 1935 zwei jüdische Unternehmer am Pranger. Einer davon war Alfred Kristeller. Er besaß ein Schuhgeschäft. Dem aktiven Mitglied der Israelitischen Religionsgemeinde wurde ein Verhältnis mit einer „arischen“ Frau vorgeworfen. Der Kaufmann versteckte sich und stirbt später unter ungeklärten Umständen. Sein Geschäft in der Reichenstraße 29 übernimmt noch 1935 ein nichtjüdischer Inhaber.

Auch andere Bautzener trifft der Hass der Nationalsozialisten, so ist es in ihrem Buch nachzulesen.

Das ist richtig, Helmut Krebs gerät zum Beispiel in diese Maschinerie. Die Eltern erziehen ihn evangelisch-lutherisch. Der jüdische Glaube spielt in der Familie keine Rolle, obwohl die Mutter jüdische Wurzeln hat. Er wird 1935 wegen Rassenschande verhaftet, zwei Jahre später verbieten die Nationalsozialisten die Ehe mit seiner „arischen“ Verlobten. Sein Chef in der Sächsischen Landwirtschaftsbank AG versucht sich schützend vor ihn zu stellen. Doch es hilft nicht. Helmut Krebs kommt im April 1944 in ein Zwangsarbeitslager. 1945 kehrt er nach Bautzen zurück und wird der erste Direktor der Stadtsparkasse.

Wie reagierten die Bautzener Juden auf die Hetze und den Verfolgungsdruck?

Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde dachten früh an Emigration. Doch es war schwer, teure Einreisegenehmigungen oder Bürgschaften zu bekommen. Die Olympischen Spiele 1936 brachten zudem eine vermeintliche Lockerung. Viele dachten, der Spuk geht vorbei.

Stattdessen folgt am 9.  und 10. November 1938 die Reichspogromnacht. Was passiert an diesem Tag in Bautzen?

Die jüdischen Familien werden aus ihren Wohnungen geholt. Über mehrere Stunden treiben Mitglieder der SA sie durch die Stadt, beschimpften und bespuckten sie. Auf dem Kornmarkt müssen sie Turnübungen vorführen und antisemitische Parolen brüllen. Ihre Wohnungen und Geschäfte werden verwüstet, die Betstube in der Töpferstaße 35 zerstört. Den Juden wird der letzte Ort in Bautzen genommen. Das Ziel der körperlichen Vernichtung zeichnet sich in diesen Ereignissen bereits ab.

Nach 1945 gab es in Bautzen faktisch kein jüdisches Leben mehr.

Das muss man so sagen. Bei unseren Recherchen stießen wir auf 142 jüdische Männer, Frauen und Kinder, die vor 1938 in Bautzen und Umgebung wohnten und von Zwangsmaßnahmen der Nationalsozialisten betroffen waren. 69 von ihnen kamen in Ghettos, Konzentrations- oder Vernichtungslager, nur sieben haben dies nachweislich überlebt. Unter den Toten sind auch acht Kinder und Jugendliche.

Vor Beginn Ihrer Forschungen gab es im Hinblick auf das jüdische Leben in Bautzen viele weiße Flecken. Konnten Sie diese Lücken schließen?

Das Museum Bautzen hat in den vergangenen 15 Jahren alle ermittelbaren Quellen zusammengetragen. Wir haben gemeinsam mit Schülern des Schillergymnasiums Zeitzeugen befragt. Es gab 2008 eine Ausstellung. Mit dem neuen Buch wollten wir beides: Forschungslücken schließen und die Dimensionen der Entrechtung und Vernichtung am Beispiel Bautzens zeigen. Zugleich sehe ich die Publikation als Gedenkbuch. Wir geben den Opfern ihr Gesicht, ein Stück ihrer Identität, zurück.

Gespräch: Miriam Schönbach

„Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung – Bautzener Juden im Zeichen des Hakenkreuzes (1933 - 1945)“. Das Buch ist als Jahresschrift des Museums Bautzen im Lusatia Verlag erschienen. Es kostet 3,90 Euro.