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Der Doktor und die große Freiheit

Jens Drahonovsky liebt Autos, das Dorfleben und seinen Beruf. Er ist Landarzt an der Neiße.

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© André Schulze

Von Frank Seibel

Die Nacht war kurz. Immer wieder musste er nach dem Patienten sehen, der unter Husten litt. Zum Glück musste er keine weiten Wege zu seinem nächtlichen Patienten fahren. Es war sein kleiner Sohn, und mit ein bisschen Mentholsalbe auf der Brust war die Behandlung dann jeweils erledigt. Aber trotzdem rief Jens Drahonovsky morgens erst mal in der Praxis an: Sie sollten schon mal Kaffee aufsetzen, sonst werde das nichts an diesem Montag. Es gab Jahre, da hätte er sich nach einem Kind-krank-Wochenende schlecht gelaunt in die Woche gequält. Aber die liegen lange zurück und in einer anderen Welt. Damals hatte Drahonovsky sein Medizinstudium hinter sich und arbeitete in einer Leipziger Klinik; eine Station auf dem langen Weg der Facharztausbildung. Damals hatte er zwar geregelte Arbeitszeiten und ab dem Nachmittag meist frei. Aber es gab strenge Hierarchien, knappe Budgets an Zeit und Geld und oft eine regelrechte Materialschlacht an Medikamenten und Technik; nicht alles nötig und sinnvoll. Seit zehn Jahren ist das Vergangenheit. Seit dieser Zeit ist Jens Drahonovsky sein eigener Chef, hat eine kleine, feine Praxis im Städtchen Rothenburg, direkt an der Neiße gelegen. Und seit zehn Jahren hat er kaum mehr Technik als ein Stetoskop, ein EKG-Gerät für die Herzfrequenz und ein Blutdruckmessgerät. Das alles ist in mehrfacher Hinsicht seltsam: Dass ein junger Arzt von der Großstadt aufs Land zieht, dass er nicht einmal ein Ultraschallgerät hat, das doch angeblich jeder braucht, und vor allem, dass er einen Satz sagt, der so gar nicht in diese Zeit zu passen scheint: „Die Arbeit ist top. Das macht Spaß ohne Ende.“

Jens Drahonovsky ist Landarzt und käme nie auf den Gedanken, demonstrativ seine Zulassung zu verbrennen, wie es kürzlich ein Kollege aus dem Süden desselben Landkreises getan hatte, um gegen zu viel Stress und zu wenig Geld zu protestieren. „Natürlich ist der Druck groß“, sagt er. Aber vieles sei Organisationssache. Und die Gabe, auch mal „Nein“ zu sagen, schadet auch nicht. „Es gibt auch bei mir Patienten, die um kurz nach 19 Uhr anrufen und über Rückenschmerzen klagen. Wenn ich dann frage, seit wann, und die Antwort ist, seit einer Woche’, dann sage ich eben, dass das dann auch bis zum nächsten Tag Zeit hat.“ Nicht böse erzählt er das, sondern ganz gelassen. „Die meisten nehmen schon Rücksicht auf den Doktor.“

Natürlich ist Jens Drahonovsky viel unterwegs in einem Umkreis von 25 Kilometern. „Fahren müssen hier alle Ärzte“, sagt er. Aber ihm macht das meistens sogar Freude. Wegen der schönen Landschaft, der Ruhe und wegen seines Hobbys, das er dabei pflegen kann. „Ich steh’ auf Autos, das ist so ein Tick von mir“, sagt der Doktor. Einige davon hat er zu Hause auf seinem Grundstück. Alte Kisten, aber mit Pfiff. Manche sportlich, manche einfach nur schön retro. So sind die Fahrten des Landarztes über die Dörfer an der Neiße nicht nur Last, sondern auch Lust. Aber lukrativ ist dieser Teil der Arbeit nicht. Deswegen machen jüngere Hausärzte in größeren Städten oft keine klassischen Hausbesuche mehr, sondern verlassen ihre Praxis nur im wirklichen Notfall. Denn in der Zeit eines Hausbesuches kann ein Arzt in seiner Praxis mehrere Patienten behandeln – und abrechnen. Das geht in einem dünn besiedelten Landstrich, in dem vor allem ältere Menschen leben, nicht. „Wir fahren hier alle“, sagt Drahonovsky und ergänzt: „Ein Klempner verdient sicherlich mehr.“ Aber er hat sich eben nicht immens verschuldet, um teure Geräte anzuschaffen, als er hier seine Praxis eröffnet hat.

Besuche bei Patienten sind für den noch immer jugendlich wirkenden Mittvierziger allerdings keine lästige Zutat zu seinem Beruf. „Ich mache gerne Hausbesuche“, sagt er. „Da lerne ich die Menschen in ihrem Lebensumfeld kennen.“ Wie wichtig das ist, erzählt er am Beispiel einer alten Dame, die immer hübsch zurechtgemacht, mit Spitzenbluse, in seiner Praxis am Marktplatz von Rothenburg erschien. Als sie dann mal nicht kommen konnte, fuhr der Doktor zu ihr hin und erschrak: „Zu Hause war alles vermüllt.“ Und er stellte fest, dass seine alte Patientin „total dement“ war, es aber bis dahin geschafft hatte, die Fassade zu wahren.

Als Kind stellte er sich eher einen Beruf mit Blaumann als mit weißem Kittel vor. Irgendwas mit Maschinen. Auf keinen Fall Arzt. Denn seine Mutter war Hausärztin, „und meine Erfahrung war, dass sie immer gearbeitet hat und fast nie zu Hause war“. So ein Leben wollte Jens Drahonovsky auf keinen Fall. Also machte er in den 1980er-Jahren erst einmal eine Schlosserlehre beim Waggonbau in Görlitz. Am liebsten hätte er Autos gebaut, aber die Autoindustrie in der DDR bot wenig Verlockungen. So brachte der politische Umbruch von 1989/ 90 auch sein Leben in eine gewisse Unordnung, die sich letztlich als Glücksfall erwies. Die Zukunft des Waggonbaus war erst einmal ungewiss, also suchte der junge Schlosser nach Alternativen. Zumal ja da noch die Wehrpflicht war, die ihn nach der Ausbildung ohnehin erst einmal auf ein Nebengleis geführt hätte. Der Sohn der Landärztin entschied sich für den Zivildienst im Görlitzer Klinikum. Dort entdeckte er, dass die Arbeit mit Menschen noch interessanter ist als die Arbeit mit Maschinen. „Irgendwann habe ich meinen Bewerbungsschein fürs Medizinstudium abgegeben.“ Eigentlich wollte er in den Westen, sagt der 44-Jährige. Aber es wurde dann doch Leipzig. „Leipzig war top“ für den damals 21-Jährigen neuen Medizinstudenten. Eigentlich wollte er Psychiater werden, also tief in die Seelenmechanik der Menschen hineinschauen. Aber abseits der Großstadtneurosen geht’s im ländlichen Gebiet immer nur um „Depressionen, Depressionen, Depressionen“, sagt der Doktor. Auf Eintönigkeit hat er keine Lust – und ist gerade deshalb von Leipzig zurückgekehrt in seine Heimat, wo ihn die Älteren von klein auf kennen und wo er jeden Winkel kennt.

Freiraum nennt er das, was er im Dörfchen Horka findet, das seine Heimat ist. Hier gibt es für ihn kein Korsett einer strengen Hierarchie von Ärzten, Oberärzten, Chefärzten, und hier muss er nicht eine halbe Million Euro zahlen, um sich ein kleines Würfelhäuschen zu kaufen, wie es frühere Studienkollegen getan haben, die auf ein Leben in der Großstadt gesetzt haben. In Horka hat Jens Drahonovsky einen ganzen Gasthof gekauft, der früher einmal der Mittelpunkt des Dorflebens war, inklusive Dorfdisco. Seit vielen Jahren stand er leer und machte einen immer traurigeren Eindruck. „Das hat mir immer in der Seele wehgetan, wenn ich daran vorbeigefahren bin“, sagt Drahonovsky. „Da haben wir früher alle getanzt und geknutscht.“

Im zurückliegenden Jahr hat er nun Nägel mit Köpfen gemacht und das „Deutsche Haus“ gekauft. 7 000 Euro hat er dafür bezahlt. „Na gut, es musste ein bisschen was dran gemacht werden“, sagt er und lacht. Er hat natürlich noch in die Sanierung investiert, aber dafür ist eben mehr als ein Würfelhäuschen für eine Familie entstanden. Es ist ein Projekt, das nicht nur dem privaten Glück dient, sondern dem ganzen Ort etwas gibt. „Eigentlich haben wir nichts Neues erfunden, sondern an die frühere Nutzung angeknüpft“, sagt der Doktor, der jetzt auch Betreiber eines Dorfladens und einer kleinen Gaststube ist. Natürlich hat er dafür Menschen aus dem Dorf angestellt, aber die Verantwortung liegt bei ihm, dem Doktor. „einLaden“ heißt das kleine Geschäft, das in der früheren Gaststube des Deutschen Hauses ein erstaunliches Angebot präsentiert. Putzmittel, Taschentücher, Zahnbürsten, Schokolade, Milch, Käse, Wein, das alles in ordentlicher Qualität, dazu zwei Verkaufstresen einer Fleischerei und einer Bäckerei aus der Region. Und die frühere Küche des Gasthauses ist auch heute wieder eine. Hier gibt‘s täglich ein frisches Mittagessen, das im gemütlichen Gastraum nebenan, schön gewärmt von einem dunkelgrünen Kachelofen, serviert wird. Derzeit kommen unter anderem die Arbeiter von Sachsens größter Baustelle hierher. Denn nur hundert Meter weiter wird eine Bahntrasse nach Polen ausgebaut. Jens Drahonovsky ist selbst Mensch genug, um zu wissen, dass „einLaden“ auch ein Gesundheitsprojekt ist. Eines gegen „Depressionen, Depressionen, Depressionen“, wenn man so will. Denn der neue Dorftreffpunkt stärkt Zuversicht und Lebensfreude.

Insofern ist das für den Arzt eine bessere Investition, als wenn er sich teure Technik in die Praxis stellen würde. Die haben ja die Spezialisten in der Nähe, mit denen er sehr gut zusammenarbeitet. „Wenn ich eine Ultraschall-Diagnose für einen Patienten brauche, bekomme ich innerhalb weniger Tage einen Termin für den Patienten. Und auf die Diagnose kann ich mich verlassen, weil ich weiß, was der Kollege kann.“ In einer größeren Stadt würde er Befunde von verschiedenen Spezialisten auf den Tisch bekommen – eine große Auswahl, gewiss. „Aber ich kann nicht immer einschätzen, ob der Befund auch wirklich gut ist.“ Im Umkreis von zwanzig, dreißig Autominuten, sagt Jens Drahonovsky, gebe es alle Spezialisten, die die Menschen brauchen. Immer nur einen zwar. Aber solange die gut sind, sei das kein Mangel. Angst um Gesundheit und Leben müssten sich die Menschen rund um Rothenburg und Horka nicht machen. Nur zwei-, dreimal sei es in seinen zehn Jahren als Hausarzt passiert, dass Patienten gestorben sind, weil sie nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus kamen. „Aber das kann in einer Großstadt auch passieren.“