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Der Fall Schlesinger

In der Bautzener Bibliothek sind erneut Bücher einer jüdischen Familie entdeckt worden. Nun beginnt die Suche nach Erben.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Bautzen. In der Stadtbibliothek Bautzen sind erneut Bücher von jüdischen Eigentümern gefunden worden, die im Nationalsozialismus enteignet wurden. Bei der jüngsten Entdeckung handelt es sich um 21 Werke aus der Sammlung der Kaufmanns-Familie Carl und Lena Schlesinger. Bis zur Machtergreifung Hitlers gehörte ihnen eine Privatbank in der Berliner Jägerstraße. Ein letztes Lebenszeichen findet sich vom Ehepaar und seinen beiden Kindern auf der Transportliste vom 4. Oktober 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt. Keiner von ihnen hat überlebt.

Auf die Spur der Familie kam der Wissenschaftler Robert Langer durch den Namenszug „Schlesinger“. Ihn findet er gleich in mehreren Büchern der städtischen Einrichtung, mal ist er ganz zu erkennen, dann wieder nur ein ausradierter Schriftzug. Seit vier Jahren wird der sogenannte Altbestand fast detektivisch untersucht, um herauszufinden, wer die einstigen Besitzer waren und wie die Bücher nach Bautzen kamen. Der spektakulärste Fund gelang den Herkunftsforschern bislang mit der Identifizierung von Teilen der einst 4000 Bände zählenden Büchersammlung der jüdischen Kaufhaus-Dynastie „Hertie“.

Familie ist emigriert
Die einst in Berlin ansässige Firma war 1933 „arisiert“ worden. Die Familien waren emigriert, ihr Besitz aber wurde beschlagnahmt und verkauft. Gut 500 ihrer Bücher wurden vor eineinhalb Jahren durch das Bautzener Projekt wiedergefunden. Bei den Recherchen zu diesem Fall entdeckt Robert Langer auch den Namen „Schlesinger“. Diesen Faden nimmt er auf. Er führt ihn ins Brandenburgische Hauptarchiv. Dort lagern die historischen Akten des einstigen Oberfinanzpräsidium Berlin-Brandenburg. „Diese Einrichtung und die Finanzämter spielten bei der staatlichen Ausplünderung der Juden eine besondere Rolle“, sagt der Forscher. Auf seinem Tisch landet schließlich eine 200 Seite dicke Akte. Darin findet sich auch derErlass zur Reichsfluchtsteuer für Carl Schlesinger ausgestellt vom Finanzamt Schöneberg am 6. November 1943 und die Erklärung zum Vermögen. Dieses Dokument füllt der Bankier für sich und seine beiden Kinder sowie seine Mutter aus, Lena Schlesinger unterschreibt ihr Erklärung selbst. Der Namenszug ist identisch mit dem Autograph aus den Büchern der Stadtbibliothek.

Langers Nachforschungen führen weiter zum Bankhaus „Abraham Schlesinger“. Die Wurzeln des Geldinstituts der liberalen Juden liegen im schlesischen Glogau (heute Glogów). 1850 eröffnet der Sohn des Gründers eine Filiale in Berlin. Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten führt Carl Schlesinger die Geschäfte. Zu diesem Zeitpunkt sind die Tage der gutbürgerlichen Kaufleute bereits gezählt. Über die anfänglichen Schikanen kann man nur Vermutungen anstellen. „Fest steht“, sagt Robert Langer, „zu Beginn der 1930er Jahren waren noch ein Drittel der deutschen Banken jüdisch. Bis 1938 waren sie alle gleichgeschaltet oder zwangsliquidiert“.

Die Vermögenserklärung unterschreiben die Schlesingers zwei Tage vor ihrer Deportation. Ursprünglich umfasst allein ihre Bibliothek um die 500 Bände. Gemeinsam mit allen anderen Habseligkeiten erhält das „Reich“ mit der „Umsiedlung“, wie es in einem Schreiben der Gestapo vom 13. Juli 1943 heißt, das gesamte Vermögen der Familie. Dieses Eigentum wird wie die Werte der Familie Tietz durch eine Spedition in ein Lagerhaus gebracht. An dieser Stelle fließen die Geschichten der Kaufmanns- und der Kaufhaus-Familie zusammen.

Zu diesem Zeitpunkt leben höchstwahrscheinlich der Bankier und sein Sohn nicht mehr. Gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern gehen sie 1942 mit über 1000 Menschen auf den sogenannten 20. Osttransport von Berlin nach Theresienstadt. „Auf der Transportliste vom Oktober findet sich letztmals der Name der Männer“, sagt der Forscher. Überliefert ist, dass zahlreiche Deportierte in Raasiku in Estland unmittelbar nach ihrer Ankunft in die Dünen getrieben und dort erschossen wurden. Für Lena steht im Gedenkbuch „Opfer der Verfolgung der Juden unter den Nationalsozialisten“ als Sterbedatum der 23. August 1944 im Konzentrationslager Stutthof.

Versteckt auf einer Kegelbahn
Aus dem Lagerhaus heraus erwirbt für einen Bruchteil des wirklichen Werts die NS-Reichstauschstelle die Bibliotheken der enteigneten Familien. Die Abteilung des Reichsministeriums des Inneren kümmert sich um die Verwertung von Büchern, die zwischen 1933 und 1945 im Deutschen Reich oder in den besetzten Ländern beschlagnahmt, erpresst und erbeutet wurden. Um das Raubgut vor den Bomben in Sicherheit zu bringen, wird es erst im Baruther Schloss und später auf die Kegelbahn nach Drehsa ausgelagert. Nach Ende des Weltkriegs landet die Beute in Bautzen.

Etwa vier Fünftel des Altbestands haben die Wissenschaftler seit Beginn des Raubgut-Projekts in der Stadtbibliothek untersucht. „Wir haben 1000 Buchbesitzmerkmale publik gemacht und alles dokumentiert, was uns in die Hände fiel“, sagt Robert Langer. Die Herkunft der Bücher ist zudem im Bibliothekskatalog OPAC verzeichnet, wo es einen Link zu Deutschen Nationalbibliothek gibt, der alle Forschungsergebnisse zu den einstigen Besitzern verrät. Bei der „Bibliothek Schlesinger“ beginnt nun die Suche nach möglichen Erben. Doch bisher endet die Spur in Bautzen.