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Der vergessene Bahnhof

Wo vor über 170 Jahren das europäische Eisenbahnzeitalter begann, wurden später Juden in den Tod geschickt.

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Von Christian Helms und Dr. Peter Bäumler

Eine Reise in die Hölle begann für rund 1 500 Menschen vor 70 Jahren Anfang März am Güterbahnhof Neustadt. Im Nationalsozialismus wurden von hieraus jüdische Frauen, Männer und Kinder größtenteils in den Tod geschickt. An diese schrecklichen Ereignisse erinnert eine Gedenktafel am Bahnhof Dresden-Neustadt. Allerdings erst seit 2001. Die Deportationen waren ein trauriges Kapitel in der Geschichte des ehemaligen Leipziger Bahnhofs, der einst eine ganz andere Geschichte schrieb – Eisenbahngeschichte.

Am 8. April 1839 wurde hier die erste Ferneisenbahnstrecke Zentraleuropas eröffnet. Sie verband Dresden mit Leipzig. Bereits 1828 – die erste Eisenbahn fuhr 1825 in England – erkannten die Leipziger Handelsbürger das wirtschaftliche Potenzial dieses neuen Verkehrsmittels. Vor allem private Aktionäre der Messestadt brachten schließlich das Kapital von mehr als einer Million Taler für diese erste deutsche Fernverbindung zusammen.

Nur dreieinhalb Jahre dauerten die Bauarbeiten für die erste deutsche Ferneisenbahnstrecke. Bis zu 8 000 Arbeitskräfte waren gleichzeitig im Einsatz. Der Standort des Leipziger Bahnhofs auf der Neustädter Seite zwischen dem heutigen Bahnhof Neustadt und der Leipziger Straße ergab sich aus der rechtselbischen Streckenführung über Strehla und Riesa. Sie erhielt wegen ihrer größeren Hochwassersicherheit den Vorzug. Zur Eröffnung der Strecke setzte sich unter großer öffentlicher Anteilnahme am 8. April 1839 der Festzug vom Leipziger Bahnhof in Dresden zum Dresdner Bahnhof in Leipzig in Bewegung.

Parallel zu den Gleisen erhielt der Bahnhof später auch ein repräsentatives Empfangsgebäude. Am 19. Mai 1857 wurde es mit der Abreise von König Johann, seiner Gattin Königin Amalie sowie den Kindern Sidonie und Sophie nach Italien feierlich eröffnet. Das Gebäude sah auch gekrönte Häupter aus der ganzen Welt. So kam hier beispielsweise im August 1897 König Chulalongkorn (Rama V.) von Siam (heute Thailand) an. Der rasante Anstieg des Verkehrsaufkommens und die Verknüpfung zu neu erbauten Bahnlinien machten bereits in den ersten Jahrzehnten der Existenz des Bahnhofs wesentliche Erweiterungen sowie Um- und Neubauten notwendig. Mit der umfassenden Neugestaltung der Dresdner Eisenbahnanlagen im ausgehenden 19. Jahrhundert verlor der Bahnhof schließlich seine Funktion im Personenverkehr. Mit dem Bodenbach-Leipziger Schnellzug Nr. 2, der am 1. März 1901 um 3.55 Uhr im Leipziger Bahnhof einfuhr und ihn um 4 Uhr in Richtung Leipzig wieder verließ, endete diese Ära des Leipziger Bahnhofs in Dresden. Den Personenverkehr übernahm der im gleichen Jahr eröffnete „Schlesische Bahnhof“ – der Bahnhof Dresden-Neustadt. Der Leipziger Bahnhof wurde zum Güterbahnhof.

Doch 37 Jahre später mussten am Ort des Leipziger Bahnhofs noch einmal Menschen Waggons besteigen. Diesmal unter grausamen Umständen. Im Oktober 1938 begann hier die Abschiebung von 724 Dresdner Juden nach Polen. Zwischen 1942 und 1944 begann dann ein großer Teil der Transporte in die Ghettos Riga und Theresienstadt und in die Konzentrationslager. Von hier, wo einst Könige empfangen wurden, Händler zu Messen fuhren, Familien ihre Verwandten begrüßten, fuhr am 2. März 1943 auch der Zug ab, der 1 500 Juden nach Auschwitz-Birkenau ins KZ brachte. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurden die meisten von ihnen ermordet.

Standort fürs Verkehrsmuseum

Nach dem Krieg, bis Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, diente der alte Leipziger Bahnhof weiter als Post- und Güterbahnhof. Zuletzt wurden hier die Soldaten der russischen Garnison nach fast fünfzigjähriger Besatzungszeit in Richtung Osten abgefertigt. Mitte der 90er-Jahre schlug eine vom Freistaat Sachsen beauftragte Gutachterkommission aus Museumsfachleuten, Architekten und Denkmalpflegern vor, auf dem brachliegenden Areal das Verkehrsmuseum anzusiedeln.

Mit seiner Museumskonzeption von 2001 folgte der Freistaat den Empfehlungen der Fachleute. Von der Stadt Dresden, von der Technischen Universität Dresden sowie von auswärtigen Museumsfachleuten wurden für das Verkehrsmuseum vom alten Leipziger Bahnhof zahlreiche Gutachten erstellt und erste Planungen erarbeitet. Die aktuelle „Museumskonzeption 2020 – Kulturland Sachsen“ von 2009 fordert einen „authentischen Ausstellungsort“ für das Verkehrsmuseum. Doch ohne eine Begründung bekennt sie sich nicht mehr zum alten Leipziger Bahnhof als künftigen Standort. Jetzt will eine Supermarktkette auf dem Bahnhofsareal bauen.