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Die 95-Euro-Hürde

Viele Pflegeschüler in Sachsen müssen ihre Ausbildung selbst bezahlen. Das ist nur ein Grund für den Fachkräftemangel.

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© Matthias Rietschel

Von David Berndt

Mariya zahlt für ihren Traumberuf. Jeden Monat sind 95 Euro Schulgeld fällig – trotz vergleichsweise niedrigem Lehrlingsgehalt, 40-Stunden-Woche und Schichtdienst. Auch nach der Ausbildung wird Mariya Vareshkina keine Reichtümer verdienen. Obwohl sie dann viel Verantwortung tragen wird. Und obwohl es sie große körperliche und geistige Anstrengungen kosten wird, den Beruf der Altenpflegerin auszuüben. Doch zum Glück kann sich die 18-Jährige gar nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Zum Glück für Sachsen, so fern die Dresdnerin das Bundesland nicht verlassen wird, wie so viele andere junge Sachsen. Denn nicht nur das Schulgeld, auch die Abwanderung sorgt für den Mangel an Pflegekräften im Freistaat.

Angesichts der steigenden Lebenserwartung werden die aber dringend benötigt. Schon in weniger als zehn Jahren wird Prognosen zufolge die Hälfte der Sachsen älter als 65 Jahre sein. Laut einer Studie der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege benötigt der Freistaat bis zum Jahr 2030 rund 30.400 Vollzeitstellen in der Pflege. Dass der Großteil der Auszubildenden in der Altenpflege allerdings Schulgeld zahlen muss, ist für den Landesgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Sachsen, Michael Richter, in diesem Zusammenhang unverständlich. „Wenn wir junge Menschen als Pflegefachkräfte gewinnen wollen, darf ihnen für die Ausbildung nicht noch Geld abverlangt werden.“

Experten kritisieren den Freistaat

Thomas Neumann, Pressereferent des Paritätischen, beziffert den Anteil dieser Pflegeschüler derzeit auf 80 Prozent. Oder anders formuliert – mehr als 3.300 Altenpflegeschüler in Sachsen müssen Schulgeld bezahlen, da die meisten Berufsfachschulen freien Trägern gehören. Mariya Vareshkina hat das Schulgeld nicht davon abgehalten, sich für die Ausbildung in der Altenpflege zu entscheiden. Nach zehn Bewerbungen und zwei Arbeitstagen auf Probe hat sie sich für das Rudolf-Friesing-Haus am nordöstlichen Stadtrand von Dresden entschieden. Seit Anfang September ist sie hier Altenpflegeschülerin. Die Einrichtung kooperiert mit der Berufsfachschule der Diakonissenanstalt Dresden. Hier lernt Mariya alles Theoretische, was sie als zukünftige Altenpflegerin wissen muss. Ginge es nach Schulleiterin Kirsten Münch, wären ihre Schüler längst vom Schulgeld befreit. Zwar gebe es die Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive des Bundes, die den Fachkräftemangel in der Altenpflege verringern will und die Länder auffordert, sich an den Kosten für die Ausbildung zu beteiligen. Aber „in Sachsen ist das bislang noch nicht geschehen, so dass wir auf das Schulgeld weiter angewiesen sind“, sagt sie.

Und 95 Euro sind kein geringer Betrag bei einem Lehrlingsgehalt im mittleren dreistelligen Bereich. Auch wenn das im zweiten und dritten Lehrjahr ansteigt. Um jungen Menschen wie Mariya das Leben leichter und die Pflegeberufe attraktiver zu machen, fordern Experten wie Michael Richter oder auch Matthias Faensen, Vorsitzender des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste in Sachsen (bpa), die Abschaffung des Schulgeldes. „Es ist inakzeptabel, dass man in Sachsen kostenlos Arzt werden kann, aber Pflegefachkräfte Geld bezahlen, um ihren Beruf zu erlernen.“ Seit zwei Jahren stellt der bpa im Landespflegeausschuss den Antrag auf Kostenübernahme des Schulgeldes durch den Freistaat. „Leider wurde der Antrag in der Vergangenheit immer abgewiesen. Es hieß, andere Berufe würden dann dasselbe verlangen“, sagt Jacqueline Kallé, Leiterin der bpa-Landesgeschäftsstelle Sachsen. „Aber herrscht da auch ein so großer Fachkräftemangel?“

Nach zwei Jahren scheint jetzt zumindest bei der Sächsischen Sozialministerin Christine Clauß (CDU) ein Umdenken einzusetzen. Bei ihrem Besuch der Fachmesse Pflege & Homecare in Leipzig Mitte Oktober stellte sie konstruktive Gespräche zum Thema Schulgeldpflicht in Aussicht. Sehr zur Freude der Pflegeverbände. „Wir sind optimistisch. Die Äußerung von Christine Clauß ist für uns ein deutliches Signal, dass etwas passieren wird“, sagt Jacqueline Kallé vom bpa. Doch allein mit dem Wegfall des Schulgeldes sei es nicht getan, so Kallé. „Wir müssen gemeinsam versuchen, das Berufsbild des Altenpflegers positiver zu gestalten.“ Im Freundeskreis von Mariya würde dann vielleicht auch die Zahl derer zunehmen, die vor ihrer Arbeit „den Hut ziehen“, wie sie selbst sagt.