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„Die Altersarmut kommt“

Gute Wirtschaftslage und dennoch mehr Bedürftige? Die Tafel-Chefin schildert, warum Menschen in Not geraten.

Von Annett Heyse
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Karin Rauschenbach leitet die Tafel Freital. Mehr als 1.000 Bedürftige versorgt das Team mit Lebensmitteln.
Karin Rauschenbach leitet die Tafel Freital. Mehr als 1.000 Bedürftige versorgt das Team mit Lebensmitteln. © Karl-Ludwig Oberthuer

Eine Lieferung Obst und Gemüse ist eingetroffen. Im Hof das Hauses Dresdner Straße 248 in Freital wuseln fünf Leute um die Stiegen herum. Sie lesen aus, was wirklich nicht mehr verwendbar ist, zerquetschte Tomaten oder welke Salatblätter zum Beispiel. Die Tafel gibt es in Freital schon lange, einst als Niederlassung der Dresdner Tafel in Potschappel geführt. 

Nach internen Querelen wurde die Lebensmittelausgabe eingestellt. 2014 erfolgte eine Neugründung als Tafel Freital, Karin Rauschenbach ist die Vorsitzende des Vereins. Am ersten Ausgabetag seien 40 Leute gekommen, am nächsten schon 150. Heute decken sich mehr als 1.000 Bedürftige mit Lebensmitteln von der Tafel ein, Tendenz steigend.

Frau Rauschenbach, haben Sie bei der Tafel etwas vom wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre bemerkt?

Auf jeden Fall, nur leider nicht so, wie wir das erhofft hatten. Es wäre ja schön, wenn unsere Arbeit gar nicht mehr gebraucht werden würde und jeder genug Geld hätte, um seinen Lebensunterhalt ganz normal zu bestreiten. Doch leider gibt es immer mehr Bedürftige, trotz der guten Wirtschaftslage. Dafür macht sich der wirtschaftliche Aufschwung in unserem Team bemerkbar. Das Jobcenter schickt inzwischen mehr Langzeitarbeitslose zu uns, was ein gutes Zeichen ist.

Und diese Menschen finden bei Ihnen erstmals seit vielen Jahren wieder eine berufliche Aufgabe?

Ganz genau. Man muss sich mal vorstellen, dass darunter Männer und Frauen sind, die seit Jahren oder sogar schon Jahrzehnten keiner geregelten Arbeit nachgegangen sind. Viele kann man nicht einfach in eine Fabrik stellen oder in ein Büro setzen und sagen: Nun mach mal. Einen Acht-Stunden-Tag können viele gar nicht bewältigen. Deshalb ist so ein niedrigschwelliges Angebot wie bei unserem Verein gut. Wir starten mit ein paar Stunden in der Woche und gewöhnen die Menschen allmählich an Arbeit. So blöd das klingt: Die Betroffenen müssen erst mal wieder lernen, beim Weckerklingeln aufzustehen und konzentriert mehrere Stunden am Stück mit anzupacken. Wir arbeiten sehr eng mit dem Jobcenter zusammen, damit die Menschen ins Berufsleben zurück finden. Begleitet werden sie zum Beispiel von einem Jobcoach. Damit haben wir gute Erfolge.

Also finden auch Menschen Arbeit, die lange keine hatten. Und trotzdem steigt die Nachfrage nach Lebensmitteln von der Tafel. Wie passt das zusammen?

Es gibt eben nicht nur gut bezahlte Arbeit. Viele Jobs, die entstanden sind, werden im Niedriglohnsektor oder zum Mindestlohn angeboten. Das reicht dann hinten und vorne nicht. Zu uns kommen viele Familien, da arbeiten beide Eltern und trotzdem fallen sie unter die Bedürftigkeitsgrenze. Dazu kommen dann noch Alleinerziehende, Studenten, kinderreiche Familien und zunehmend arme Rentner. Deren Zahl wächst. Altersarmut wird in den kommenden Jahren noch ein großes gesellschaftliches Problem werden, da erleben wir derzeit erst die Anfänge.

Wie kommt diese Altersarmut Ihrer Meinung nach zustande?

Die Politik hat es einfach versäumt, das Rentenniveau anzuheben. Viele Rentner leben auf Hartz-IV-Niveau. Sie bekommen zu ihrer schmalen Rente, die teilweise deshalb so gering ist, weil sie seit der Wende immer mal wieder oder längere Zeit arbeitslos waren, eine Grundsicherung. Steigt dann die Rente mal um ein paar Euro, wird das sofort bei der Grundsicherung wieder abgezogen. So bleiben diese Menschen immer auf dem niedrigen Level hängen. Nur leider wird alles teurer: Miete, Strom, Lebensmittel, Fahrpreise. Deshalb kommen immer mehr Rentner zur Tafel. Die Dunkelziffer ist sogar noch viel höher.

Sie meinen Menschen, die eigentlich zur Tafel kommen könnten, es aber nicht tun?

Ja, und das hat viel mit Angst zu tun. Sie wollen nicht gesehen werden, weil sie Gerede und Diskriminierung befürchten. Sie schämen sich. Ich kann diese Gefühle verstehen. Deshalb gibt es in unseren zwei Ausgabestellen in Deuben und Potschappel auch jeweils ein Café. Da kann man sich reinsetzen und warten und muss nicht auf der Straße stehen. Und unsere Leute, die hier arbeiten, kommen selbst aus solchen Situationen und wissen Bescheid. Keiner braucht sich zu schämen, zur Tafel zu kommen.

Wer darf denn zur Tafel kommen?

Alle, deren Haushaltsnettoeinkommen unter dem Vierfachen des Hartz-IV-Satzes liegen. Bei einem Erwachsenen gelten 1.664 Euro pro Kopf als Grenze.

Wird das Ihrerseits geprüft?

Ja. Wer erstmals zu uns kommt, muss seine Unterlagen mitbringen. Also Rentenbescheide, Lohnzettel, Unterhaltsnachweise, Bescheide über Zahlungen vom Jobcenter oder der Arbeitsagentur, Mietverträge und ähnliches. Unsere Mitarbeiter sind geschult und prüfen das, dann geben wir an Berechtigte eine Abholkarte aus.

Gibt es bei der Tafel noch genügend Lebensmittel für alle, wenn die Nachfrage so steigen?

Wir bekommen von fast allen Freitaler Einkaufsmärkten Lebensmittel und Kosmetik gespendet. Das sind nicht nur Dinge, die kurz vor dem Verfallsdatum stehen. Wir bekommen auch Überproduktionen, Lagerrestbestände oder zu viel bestellte Ware. Einmal in der Woche holen wir dazu aus der Molkerei in Leppersdorf Milchprodukte ab. Auch viele Bäcker aus der Umgebung unterstützen uns. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei allen einmal ganz herzlich bedanken. Sie sind uns eine große Hilfe! Die Waren präsentieren wir wie in einem Geschäft. Jeder kann mit seinem Korb herumgehen und sich nehmen, was er braucht. Dafür verlangen wir lediglich einen kleinen Obolus, mit dem wir unsere Betriebskosten finanzieren. Aber da müssen wir manchen Monat zubuttern, weil es nicht reicht. Ohne einen jährlichen Zuschuss vom Landkreis können wir nicht überleben. Schön wäre mehr Unterstützung von Lokalpolitikern.

Was wünschen Sie sich da konkret?

Das mal jemand vorbei kommt und schaut, was wir hier machen und alles auf die Beine stellen. Und das mal jemand mit den Leuten redet. Schön wäre es, wenn sich mal der eine oder andere – egal von welcher Partei – in unser Café setzt und mit den Menschen, die hier ihre Lebensmittel holen müssen, ins Gespräch kommt. Das die Stadträte mal merken, was die Leute bedrückt und wo es klemmt. Verena Meiwald von den Linken war mal hier, damals, als die Flüchtlinge kamen und in Freital so eine Unruhe herrschte. Frau Meiwald hat es geschafft, den Leuten klarzumachen, dass ihnen niemand etwas wegnimmt. Das war eine tolle Veranstaltung und ist richtig gut angekommen.

Das Gespräch führte Annett Heyse.

Ausgabestelle: Dresdner Straße 248 geöffnet montags, mittwochs, freitags, sonnabends ab 9 Uhr (Café), Lebensmittelausgabe 13 bis 15 Uhr; Ausgabestelle Am Markt 3 geöffnet dienstags und donnerstags ab 10 Uhr (Café), Lebensmittelausgabe 12 bis 14 Uhr