SZ +
Merken

Die Angst war immer dabei

In der Werkstatt von Dieter Postelt hat eine Handvoll Harthaer das Neue Forum gegründet. Das war gefährlich.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Sylvia Mende

Die Werkstatt von Glasbläser Dieter Postelt ist ein historischer Ort. Hier haben sich die Harthaer getroffen, die Veränderungen wollten. Hier wurde das Neue Forum von Hartha, später der Schützenverein gegründet. Diese Gruppe von mutigen Leuten war es, die die Demonstrationen organisierte, sich Gedanken machte, wie es weitergehen kann, die ein Programm aufstellte. Zu den führenden Persönlichkeiten, die sich damals für Veränderungen einsetzten und dafür ein hohes Risiko eingingen, gehören Stephanie und Dieter Postelt und Henry Görlitz.

25 Jahre nach der friedlichen Revolution haben sie sich in der Werkstatt getroffen, um sich an diese Zeit zu erinnern. Sie müssen feststellen, dass ihre Ziele und Visionen nicht verwirklicht wurden. Es ging ihnen um mehr Freiheit, mehr Demokratie, um Selbstbestimmung und nicht um die Wiedervereinigung oder die D-Mark. Froh sind sie, dass es die DDR nicht mehr gibt. Zufrieden sind sie trotzdem nicht. „Wir hatten uns das, wofür wir uns eingesetzt hatten, anders vorgestellt. Deshalb sind wir vom Ergebnis enttäuscht“, so Dieter Postelt.

Stephanie Postelt studierte 1989 im damaligen Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. „Anfang September brachte meine Frau ein Programm des Neuen Forums mit nach Hause. Das ist es, dachten wir. Dafür wollen wir uns auch einsetzen“, sagte Dieter Postelt. So wie es war, habe es nicht weitergehen können. Die Stadt verfiel zunehmend. Es gab immer weniger zu kaufen. „Die Veränderungen, die wir wollten, sollten auch für unsere Kinder sein. Wir wollten für sie eine andere Zukunft“, so Stephanie Postelt. Sie und ihr Mann suchten nach Gleichgesinnten, nach Leuten, bei denen sie sicher sein konnten, dass sie nicht verraten werden, mit denen es eine große Übereinstimmung gab. „Wir sprachen Henry Görlitz an. Ihn kannten wir, weil unsere Kinder gemeinsam die Kita und dann die Schule besuchten. Wir waren auf einer Wellenlänge“, sagte Dieter Postelt. Die Treffen fanden dann einmal in der Woche statt. „Wir haben bis in die Nacht hinein diskutiert. Es qualmte hier nicht nur, weil wir rauchten, sondern weil wir Pläne schmiedeten, wie es weitergehen könnte. Für uns stand fest, dass sich was verändern muss“, sagte Henry Görlitz. Weitere Harthaer kamen dazu.

An den Abenden in der schmalen und düster wirkenden Glasbläserwerkstatt ging es darum, wie weitere Mitglieder gewonnen werden könnten. Unzählige Namen wurden zur Diskussion gestellt, viele wieder verworfen und einige Leute davon angesprochen. Zum Schluss stellte sich heraus, dass unter den Sympathisanten der neuen Bewegung doch ein Stasi-Spitzel saß.

„Wir mussten damals sehr vorsichtig sein. Keiner wusste, ob unsere Pläne einer friedlichen Revolution funktionieren würden. Was mit uns passiert, wenn wir von der Stasi festgenommen werden“, sagte Henry Görlitz. Damals sei man sehr blauäugig an die Sache herangegangen, habe geglaubt, dass keiner wisse, dass es Harthaer gibt, die sich gegen das DDR-Regime wenden. Doch in einer Kleinstadt spricht sich so etwas schnell herum. „Während eines Treffens haben wir beobachtet, dass ein Lada die damalige Ernst-Thälmann-Straße, die heutige Nordstraße, immer hoch und runter fuhr. „Wir hatten immer Angst. Schließlich hätten wir zu jeder Zeit abgeholt werden können“, sagte Stephanie Postelt. Mit ihrer Freundin habe sie besprochen, dass sich diese dann um die Kinder kümmern sollte. „Heute weiß ich, dass das gar nicht funktioniert hätte“, so Postelt.

Dieter Postelt arbeitete im Sprecherrat des neuen Forums in Döbeln mit. „Mir wurde nahe gelegt, in Hartha eine Gruppe zu gründen. Das haben wir dann Ende Oktober getan“, sagte der heute und damals selbstständige Glasbläsermeister. Er engagierte sich auch beim Bürgerkomitee in Leipzig – der runden Ecke.

„Damals bin ich kaum zum Arbeiten gekommen. Ständig war ich unterwegs. Ich war vom Willen der Veränderung getrieben“, sagte Dieter Postelt. Er und seine Frau waren am 23. Oktober 1989 beim ersten Friedensgebet in der Stadtkirche dabei. Auch bei den Christen hatte sich eine Gruppe gefunden, die nicht untätig sein wollte.

Eine Dokumentation dieser aufregenden Zeit gibt es nicht. Deshalb können die Gründer des Neuen Forums von Hartha keine konkreten Daten nennen. Sie nahmen in dieser Zeit an den Demonstrationen in den umliegenden Großstädten teil.

Stephanie Postelt war es, die die Initiative ergriff, und in Hartha die erste Demonstration Ende Oktober 1989 organisierte. Die Polizei musste informiert, die Route festgelegt, die Ordner eingeteilt werden. „Wir wollten mit der Montags-Demo die Harthaer wachrütteln, der Obrigkeit zeigen, dass Hartha nicht schläft“, sagte sie. Mit handgeschriebenen Flyern riefen sie zur Teilnahme an der Demonstration auf, steckten die Handzettel in Briefkästen und legten sie in Geschäften aus. Und als sich am Abend der Marktplatz füllte, freuten sich die Organisatoren über die große Beteiligung. Viele wollten Veränderungen. „Damit hatten wir nicht gerechnet“, so Stephanie Postelt.

Mehrere 100 Leute hatten sich vor dem Rathaus versammelt, als Dieter Postelt und Dr. Gunter Pechstein vom Neuen Forum in Döbeln zu den Anwesenden sprachen, ihnen Perspektiven aufzeigten und über Veränderungen redeten. Damals habe Pechstein gesagt: „Die Harthaer haben nicht nur einen Arbeits- und einen Schlafanzug, sondern auch einen zum Demonstrieren.“

Alles habe sich in dieser Zeit fast überschlagen. Im Januar 1990 trafen sich Vertreter verschiedener Blockparteien, die sich wieder etablierten, der Kirche und des Neuen Forums zum Runden Tisch. In dessen Auftrag schauten sich Dieter Postelt mit anderen Vertretern und einem Staatsanwalt im Richtturm am Harthaer Kreuz um. „Keiner wusste, was dort passiert, wofür er verwendet wurde“, so der Glasbläser. Empfangen wurde die Gruppe von einem Polizisten mit Maschinengewehr. „Es stellte sich heraus, dass der Turm zur Überwachung der Telefone im Auftrag der SED-Kreisleitung diente“, sagte Postelt.

Die Demonstrationen gingen weiter. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Es ging nicht mehr um eine gerechtere und soziale Gesellschaft, sondern um die Öffnung der Grenze, die Einheit und die D-Mark. „Mit dem, was da im Einigungsvertrag stand, waren wir nicht einverstanden. Doch die Mitglieder des Neuen Forums hatten nicht die Kraft und die Macht, ihre Ideen einzubringen. Sie waren teilweise nicht mehr gewollt.

Und so wie in der großen Politik, ließ der Einfluss des neuen Forums auch in der Politik der Stadt nach. Ich war der einzige Vertreter im neu gewählten Stadtrat und war dann dort auch ein Einzelgänger. Mit vielem, was beschlossen wurde, war ich nicht einverstanden und habe es abgelehnt. Doch meine Stimme war nichts wert. Deshalb habe ich das Handtuch geworfen und bin aus dem Stadtrat ausgetreten“, erzählte Dieter Postelt.

„Bei mir hat diese Erkenntnis etwas länger gedauert. Doch im vergangenen Jahr war der Zeitpunkt gekommen. Ich wollte und konnte nicht mehr parteikonform sein. Deshalb habe ich mich auch nicht mehr als Stadtrat zur Wahl gestellt“, sagte Henry Görlitz. Er habe sich schon zu DDR-Zeiten nicht angepasst und sei dafür er selbst geblieben. Das ist auch Familie Postelt wichtig, die auf vieles verzichtet hat, um ihren Standpunkt treu zu bleiben.

„Wir haben von dieser aufregenden Zeit vieles verdrängt, einiges ist in Vergessenheit geraten und kann nur durch Gespräche wieder aktualisiert werden“, so die drei Gründer des neuen Forums. Sie würden es begrüßen, wenn die friedliche Revolution den Jugendlichen in den Schulen näher gebracht wird. „Das Thema müsste mehr Beachtung finden. Es gehört zur Geschichte“, so Dieter Postelt.