Die Babyflüsterin

Radebeul. Das Baby wurde frisch gewickelt, es hat getrunken, ist gesund, wird getragen, bekommt seinen Schnuller, aber nichts hilft. Es schreit. Manchmal ununterbrochen wie am Spieß. „Was hast du denn nur?“, fragen die erschöpften, von Schlafmangel geplagten Eltern. Eine Antwort kann das Kind ihnen noch nicht geben. Zurück bleibt ein Gefühl von Hilflosigkeit. In solchen Fällen versucht Elisabeth Kurth zu helfen.
Die Radebeulerin betreibt seit 22 Jahren eine Stillpraxis im Augustusweg. Ein wilder, grüner Garten. Ein schmuckes, gelbes Winzerhaus. Hier empfängt Elisabeth Kurth, 63 Jahre alt, Eltern mit ihren Kindern. Sie selbst ist fünffache Mutter und inzwischen auch Großmutter. Doch das allein macht sie noch nicht zur Expertin in Sachen Schreibabys.
Über Jahre hat sie sich weitergebildet, Seminare besucht, immer dazu gelernt. Heute ist sie unter anderem zertifizierte Stillberaterin, Trauma-Körpertherapeutin, Eltern-Säuglings-Kleinkindberaterin, Bindungsanalytikerin und Fachberaterin für Emotionelle Erste Hilfe.
Ein großes, weiches Kissen, in dem man komplett versinken kann, liegt in der Entspannungsecke. Rund herum viele weitere Kissen, Rücken- und Nackenstützen. Alles, was es braucht, um es sich richtig bequem zu machen. Hier lässt Elisabeth Kurth die Mütter – oft sind auch die Väter dabei – mit ihren Babys Platz nehmen.
Und dann versucht sie herauszufinden, was die Ursache für das Schreien ist. Die Radebeulerin spricht mit ruhiger Stimme. Sie ist empathisch. Die Art von Person, bei der man sich auf Anhieb wohlfühlt.
Es gibt vier Ebenen, warum Kinder weinen, erklärt die Expertin. Bei der ersten schreit das Kind, weil es krank ist oder Schmerzen hat. Bei der zweiten, weil bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllt sind, es beispielsweise schwitzt, allein oder hungrig ist.
Bei Schreikindern können diese Fälle aber oft ausgeschlossen werden. Das Baby weint, obwohl die Eltern eigentlich alles richtig machen. Oft handelt es sich dann um das sogenannte Resonanz-Weinen, die dritte Ebene, sagt Elisabeth Kurth. Die Kinder schreien, weil sie merken, dass sich jemand in ihrer Umgebung nicht wohlfühlt, oft die Mutter.
„Kinder sind sehr empathisch“, sagt die Expertin. Mit ihrem Weinen wollten sie anderen zeigen: „Kommt her, meiner Mama geht es nicht gut.“ Das komme besonders oft vor, weil Mütter in unserer Gesellschaft zu viel allein gelassen werden, so Kurth. In einem afrikanischen Dorf beispielsweise gebe es diese Form des Resonanzweinens bei Babys nicht, weil sich dort eine viel größere Gemeinschaft um Kind und Mutter kümmert. „Wir hingegen leben in einer kinder- und mütterunpraktischen Kultur“, sagt die Beraterin.
Wichtig sei es deshalb, dass Mütter mindestens ein bis zwei Stunden in der Woche ihr Kind abgeben können und eine verantwortungsfreie Zeit für sich haben. Außerdem bringt Elisabeth Kurth den Frauen Übungen bei, mit deren Hilfe sie sich innerhalb kurzer Zeit entspannen können. „Wenn die Mutter entspannt ist, spürt das auch das Baby.“
Schreit das Kind dann trotzdem immer noch, handelt es sich um Ebene vier, das sogenannte Erinnerungsweinen. „Manche Kinder müssen weinen, um alten Stress nach außen zu bringen“, sagt die Beraterin. Möglicherweise kann die aus Sicht der Mutter und Ärzte so gut verlaufene Geburt für das Kind dramatisch gewesen sein. Es spürte Schmerzen, bekam keine Luft, hatte Angst. In solchen Fällen ist es wichtig, dass die Kinder das Erlebte ausdrücken, sich sozusagen ausweinen können.
„Das Schreien kann klingen wie am Spieß und ist für die Eltern nicht leicht auszuhalten.“ Elisabeth Kurth unterstützt sie und zeigt ihnen, wie sie ihrem Kind Mitgefühl vermitteln können.
Oft reichen wenige Termine in der Stillpraxis, um das Trauma zu überwinden. Mittlerweile waren Tausende Babys dort. „Ich habe einen wunderschönen Beruf“, sagt die Beraterin. „Und die Arbeit ist hochbefriedigend.“
Da fällt es schwer, mit 63 Jahren an die Rente zu denken. „Ich habe noch gar keine Lust aufzuhören, aber ich baue Schritt für Schritt meine Nachfolge auf.“ Die Schwiegertochter soll die Praxis übernehmen, in der unter anderem auch Babymassagekurse, Beratungen bei Erziehungskrisen und Stillproblemen, Craniosacraltherapie sowie Bindungsanalyse zum noch nicht geborenen Kind angeboten werden.