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Die Förderschulverweigerer

Kevin aus Radeberg geht seit einem Jahr nicht zur Schule. So lange schon streiten Eltern und Behörden vor Gericht.

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Von Jana Ulbrich

Es ist ein laufendes Verfahren, in dem es bisher noch keinen Sieger gibt. Dafür aber schon lange einen Verlierer: Kevin Pietzsch, elf Jahre alt, aus Radeberg.

Der schlaksige Junge mit dem Sommersprossengesicht lümmelt im Gartenstuhl und blinzelt in die Nachmittagssonne. Er grüßt freundlich und legt das Buch aus der Hand: „Sam Hinkel und die Akademie für Ärger“. Wie passend. „Das fetzt, das Buch“, sagt Kevin mit breitem Grinsen im Gesicht. Und dieser Junge hier soll ein Störenfried sein? Kevins Mutter seufzt leise. Sie weiß, dass ihr Sohn auch anders kann: Von einer, auf die nächste Sekunde, kann er ausrasten, kann sehr aggressiv und ausfällig werden. „Wenn er sich gehänselt oder unter Druck gesetzt fühlt, wird er unberechenbar“, sagt Onatha Pietzsch. Kevin hat eine emotionale Störung im Sozialverhalten. Er geht regelmäßig zur Therapie.

In der Schule ist es deswegen schwierig mit ihm. In der dritten Klasse attestiert ihm die Bildungsagentur Bautzen einen „sonderpädagogischen Förderbedarf“. Kevin darf an der Grundschule bleiben, gehört aber nun zu den Schülern, die integrativ mit einem höheren Förderaufwand beschult werden. Seine Eltern sind frohen Mutes, dass das auch an der Oberschule so weitergehen kann.

„Am Anfang sah auch alles danach aus“, erzählt sein Vater. Und dann rasselt Steffen Pietzsch im Schnelldurchlauf diesen ganzen, langen Fall herunter. Er kann die Sätze aus Gerichtsurteilen und Behördenschreiben auswendig zitieren. Seit einem Jahr führen die Eltern einen erbitterten Kampf darum, Kevin trotz seiner seelischen Behinderung an eine normale Oberschule schicken zu können, während die Bildungsagentur den Jungen an einer Förderschule für Erziehungshilfen unterbringen will. Der Fall füllt inzwischen fünf dicke Aktenordner. Und Kevin ist seitdem keinen einzigen Tag in der Schule gewesen.

Nach der Grundschule soll der Junge an der Pestalozzi-Oberschule in Radeberg aufgenommen werden. Alles scheint klar. Kevin braucht aber einen Schulbegleiter für die gesamte Unterrichtszeit, verlangt die Bildungsagentur. Den beantragt die Familie im Mai 2013 beim Landratsamt in Bautzen. Ende August, vier Tage vor Schuljahresbeginn, lehnt das Jugendamt die Bereitstellung eines solchen Einzelfallbegleiters für Kevin ab. Drei Tage vor Schuljahresbeginn schickt die Bildungsagentur dann die Zuweisung an eine Förderschule in Dresden. „Wir haben bei Kevin sonderpädagogischen Förderbedarf in erheblich schwerem Maße festgestellt“, erklärt die Sprecherin der Bildungsagentur in Bautzen. „Das ist an einer Regelschule absolut nicht zu leisten.“

Förderschule? Das kommt für Onatha und Steffen Pietzsch nicht infrage. „Der Junge ist doch intelligent. Er ist wissbegierig. Er will lernen. Was soll er denn an einer Förderschule?“, fragt seine Mutter. Sein Vater drückt es drastischer aus: „Die wollen Kevin einfach aussortieren nach dem Motto: Wer schwierig ist, muss raus. Der Störenfried wird einfach abgeschoben aus dem normalen Regelschulsystem. Fertig!“

Der Finanzwirt, der sich mit Gesetzen, Paragrafen und Amtsdeutsch ganz gut auskennt, beantragt vor Gericht einstweilige Verfügungen, klagt gegen die Entscheidungen von Jugendamt und Schulbehörde, will die Bereitstellung eines Schulbegleiters gerichtlich erzwingen. Er schreibt Beschwerden, wendet sich an den Petitionsausschuss des Landtags. Der Fall beschäftigt mittlerweile mehrere Gerichte. Inzwischen geht es nicht mehr nur um die Frage, ob Förder- oder Regelschule, sondern auch um Bußgeldbescheide wegen Schulverweigerung und sogar um den Entzug des Sorgerechts, weil das Jugendamt mit der Schulverweigerung das Kindswohl gefährdet sieht.

Onatha und Steffen Pietzsch lassen sich nicht beirren. „Solange wir das durchhalten, kämpfen wir“, sagen sie. Sie sind überzeugt, dass Kevin mit einem Einzelfallbegleiter an der Oberschule gut lernen könnte. „Auch sozial-emotional behinderte Kinder müssen doch das Recht auf Integration haben“, fordert Steffen Pietzsch.

Der Fall Kevin Pietzsch ist kein Einzelfall in Sachsen. Immer öfter ziehen Eltern vor Gericht, um ihrem Kind trotz Behinderung einen normalen Schulabschluss zu ermöglichen. Werden von Sachsens Schulbehörde Kinder zu oft und zu schnell an Förderschulen abgeschoben und so ihrer Zukunfts-Chancen nachhaltig beraubt? Die Bildungsagentur weist den Vorwurf zurück. 7 300 Schüler mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ seien demnach im letzten Schuljahr an einer Regelschule integriert unterrichtet worden – fast dreimal so viele an einer Förderschule.

Und Kevin? Der wartet weiter auf den Ausgang des Verfahrens.