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Die Fußball-Höhle von Ödernitz

In Torsten Pauls WM-Studio schauen bis zu 30 Freunde alle Spiele. Wer Weltmeister wird, steht fest – oder wer nicht.

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© André Schulze

Von Thomas Staudt

Ödernitz. Tip und Tap, die beiden Maskottchen der WM von 1974, stehen Arm in Arm auf einem kleinen orangefarbenen Kästchen. „Das ist eine Spieluhr“, erklärt der Ödernitzer Torsten Paul, ersteigert im Internet für rund 40 Euro. Wäre das ein Film, würde die Kamera nun Paul groß zeigen, während leise „Glory, glory, hallelujah“ anklingt, der Song, den die Spieluhr dudelt, wenn man sie aufzieht. Schwenk: Die Kamera zoomt auf und erfasst nach und nach die Briefmarken, Münzen, Anstecknadeln, Pokale und Wimpel. Alle Gegenstände tragen Fußballmotive, die meisten das Emblem einer Fußballweltmeisterschaft. An einer der Wände in dem kleinen Garten-Studiolo, das Paul „WM-Studio“ nennt, pinnt eine Schwarzweißpostkarte mit den Weltmeistern von 1954. In einen kleinen Kreis oben rechts ist das Konterfei von Sepp Herberger hineinmontiert. Von einem Bierhumpen mit weißblauen Bayernrauten grüßt der Kaiser in jungen Jahren. Auf der Rückwand hechtet Sepp Maier fast lebensgroß, aber zweidimensional, nach einem Ball.

Torsten Paul sammelt alles, was es seit den ersten Fußballweltmeisterschaften 1930 in Uruguay zu kaufen gab oder was zu Werbezwecken verschenkt wurde. Bis zu hundert Euro hat er schon für gefragte Einzelstücke ausgegeben. Über 400 Exponate hat er im Laufe der Jahre zusammengetragen. Schätzungsweise. Nachgezählt hat er noch nicht. Drei Jahre und zehn Monate lagern die Stücke in Kisten. Rund vier Wochen vor den Meisterschaften zieht sie Paul hervor und jedes Stück bekommt einen Platz. So wird aus dem winzigen Räumchen mit dem künstlichen Fußballrasen und den weißen Wänden in ausdauernder Kleinarbeit das „WM-Studio“. Die Kamera würde nun in einer Rückblende Torsten Paul beim Dekorieren zeigen. Wie gesagt, wenn das ein Film wäre.

Aber das WM-Studio ist kein Museum, sondern eine stilechte Event-Location. Torsten Paul, seine Familie, Freunde und Bekannte sehen jede einzelne Begegnung der aktuellen Fußballweltmeisterschaften in Russland. Zum Deutschlandspiel am Sonntag gegen Mexiko drängten sich rund 30 Fans in dem vielleicht drei mal sechs Meter großen Raum. Ein Hexenkessel, bei dem kein Auge und vor allem keine Kehle trocken bleibt. MAZ ab: Auf dem Bildschirm würde nun eine Rückblende zum Geschehen am Sonntag erscheinen. Schnitt, dann Totale auf Paul, der auf dem Tisch im WM-Studio sitzt. Er wird ernst: „Ich bin ein bissel enttäuscht, weil alle großen Mannschaften nur mit mäßigen Spielen in die WM gestartet sind“, sagt er. Und, dass der Bundestrainer den Khedira und den Gomez mitgenommen habe, das verstehe er ganz und gar nicht. „Irgendwas läuft da schief.“ Auch Özil und Gündogan hätte er daheim gelassen. Wegen der Sache mit Erdogan. So etwas produziere Nebengeräusche, die das Gesamtbild stören. „Eine Fußballweltmeisterschaft gewinnst du nur, wenn du dich von Anfang an voll darauf konzentrierst.“ Die Kamera hat Paul jetzt wieder ganz groß im Bild, ein Sympathieträger, der nicht verbohrt, sondern locker, aber voller Leidenschaft über die – angeblich – schönste Sache der Welt spricht. Klappe, Kamera aus. Und wer wird Weltmeister? Torsten Paul, der seit 14 Jahren als Leiharbeiter bei Bombardier Waggons zusammenbaut – derzeit sind es Doppelstockwagen für Israel und die Deutsche Bahn – winkt ab. „Wir haben alle einen Tipp abgegeben.“ Verraten wird nichts. Die Zettel warten, verschlossen in einer kleinen Dose, bis nach dem Endspiel. Erst dann wird ausgezählt. Zusätzlich geben alle, die zu einem Spiel kommen, einen Spieltipp auf einem Flipchart draußen im Hof ab. „Das kann ich Ihnen zeigen.“

In einer einzigen Fahrt schwenkt die Kamera über den Vorgarten mit den vielen Fußbällen und dem improvisierten Tor, streift den WM-Wegweiser mit allen bisherigen Austragungsorten, filmt sich am Haus vorbei, lässt das WM-Studio links liegen und erfasst die Laube mit dem Tischfußball, die Chillout-Area der Fantruppe. Rechts steht der Chart. In diesem Moment rollt Winfried Günzel auf seiner alten Möhre mit dem schwarzem Rahmen und den lila Sprenkeln auf den Hof, Hund Jessi an der Leine. Alle nennen ihn den Gänseschmied – einerlei, warum. Günzel kommt nicht zum Fußball. Seine Tochter schon. Manuela sitzt mit Torsten Paul ganz vorn. „Das ist ein Kritiker. Mit dem red’ ich eigentlich gar nicht. Aber ich muss ja“, sagt Paul. Die deutsche Mannschaft werde wohl sehr bald ausscheiden, meint Günzel wie auf Stichwort. „Dann fahr’ ich zum Flughafen nach Frankfurt“, sagt er und wippt provozierend auf seinem Rad. Jetzt mal Hand aufs Herz: Wer wird Weltmeister? „Deutschland packt es nicht.“ Das zu sagen, fällt Torsten Paul schwer, denn verlieren, das kann er nicht. Die Spiele sieht er sich trotzdem an. Mit den Kumpels. Aber ganz ohne Kamera.