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Die Gallier der Oberlausitz

Die Menschen in Wittichenau sind zufrieden. Das sagt nicht nur deren Bürgermeister. Ein Rundgang durch eine glückliche Stadt.

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© Ronald Bonß

Von Christina Wittich (Text) und Ronald Bonss (Foto)

Kreuze, Kappen und Klubs. Kirche, Karneval und ein reges Vereinsleben. Die Einwohner Wittichenaus sind der SZ-Glücksstudie zufolge die glücklichsten Sachsen, und die drei K’s sind die Eckpfeiler ihrer Zufriedenheit. Nicht unbedingt das Geld.

„Materiell haben wir uns verschlechtert, aber wir sind jetzt glücklicher“, sagt Jasmin Schenker. Ende Juli vergangenen Jahres ist die 33-Jährige vom Niederrhein umgezogen in die Oberlausitz. Zwei Kinder brachte sie mit, ein drittes kam zum Jahreswechsel bereits in Wittichenau zur Welt. Eine Tochter. Die schläft nun im Elternschlafzimmer. Ihre beiden Schwestern schauen fern im Wohnzimmer. Es ist warm und ein wenig beengt. Vier Zimmer hat die Wohnung, zwei davon strahlen rosafarben. In der Küche sitzen die Eltern und trinken Kaffee.

Jasmin Schenker ist damals ihrem Mann Michael gefolgt. Der hatte Heimweh – wie offenbar viele Wittichenauer, wenn sie ihre Stadt, die Region verlassen müssen, sei es wegen eines Studiums, der Arbeit, der Liebe. „Ja, der Junge, der hat so ein Heimweh gehabt, der kommt jetzt erst einmal wieder zurück“, sagt zum Beispiel eine ältere Dame im Buchladen am Markt zu ihrer Kollegin. Zwischen Kirchendevotionalien, christlichen Erziehungsratgebern und Reiseführern unterhalten sie sich über gemeinsame Bekannte.

Michael Schenker, heute 40, hatte seine Heimat 1996 verlassen. Der junge Mann hatte Fleischer gelernt in Hoyerswerda, was ihm nicht reichte. Also ging er ins Sauerland an eine Fachschule für Technische Assistenten. Sein Weg führte an die Universität Düsseldorf, er wohnte in Mülheim an der Ruhr. Michael Schenker lernte seine zukünftige Frau kennen, und sie zogen nach Issum an der niederländischen Grenze. Anderthalb Stunden brauchte er von dort mit Bus und Zug nach Düsseldorf. Sie arbeitete als Sozialpädagogin in der Familienhilfe. Eine hübsche Doppelhaushälfte mieteten sie, reichlich Platz. Die Kinder kamen zur Welt. Die Eltern der Mutter lebten zwar in der Nähe, hatten aber selbst wenig Zeit. „Da wird man zum Einzelkämpfer“, sagt Jasmin Schenker. Und dann, im Herbst 2012, mal wieder Urlaub in Wittichenau. „Hier war alles so schön friedlich.“

Luft und Straßen sauber, glänzende Wegekreuze, Pferde, Weiden, Tradition und Zusammenhalt. Ein paar Minuten zu Fuß von der Wohnung der Familie Schenker führt der Weg ins Zentrum. Ältere Menschen auf der Straße schauen, grüßen. Lebensgroß der Gekreuzigte auf dem Marktplatz, an einer Hauswand schräg dahinter eine Bronzetafel hinter Glas. Sie verweist auf die „Geschichte einer traditionsverbundenen Stadt“, ist aber mehr noch eine sorgfältig modellierte Werbefläche für die Unternehmen der Umgebung. Gegenüber das Rathaus, zwölf Glocken über dem Eingang. Im ersten Stock sitzt Markus Posch an seinem Schreibtisch. Er muss sich noch an seine neue Position gewöhnen.

Seit August ist CDU-Mann Posch der neue Bürgermeister in Wittichenau. Sein Vorgänger und Parteikollege hat ihm eine Kohlezeichnung des Kohl'schen Konterfeis hinterlassen. „Ich muss mich erst noch einrichten“, sagt Posch und lächelt. Der 45-Jährige lächelt sehr viel. „Ich bin glücklich“, sagt er und dass er denke, dass die meisten seiner Mitbürger ganz ähnlich empfänden. Wittichenau habe alles, was ein Mensch brauche: „Eine funktionierende Infrastruktur und Bürger, die Eigeninitiative zeigen; gewachsene Beziehungen zwischen vielen Familien und einen Jahresplan, den die Kirche und der Karneval vorgeben.“ Markus Posch selbst ist Kappenbruder und im Kirchenvorstand. „Platt gesagt, hier ist immer was los“, sagt der Bürgermeister.

Deswegen kehren die Menschen langsam zurück. Ebenso wie andere Teile der Lausitz war auch Wittichenau betroffen vom wirtschaftlichen Einbruch nach dem Fall der Mauer. Wer Arbeit fand, zog in den Westen Deutschlands oder pendelte. Familie und Freunde aber blieben zurück. Nur eine Sehnsucht reiste mit.

Die verlorenen Schäfchen finden allmählich wieder nach Hause. Die Landschaft, die heile Welt der Oberlausitz lockt außerdem neue Anwohner. Bauflächen müssten nicht lange ausgeschrieben werden, Leerstand und Verfall gebe es nicht in seiner Stadt, sagt Markus Posch. 5.881 Einwohner hat der Ort. Die Zahl steigt seit ein paar Jahren. Ein Drittel der Einwohner sind Sorben, fast 80 Prozent Katholiken.

„Hier leben auch Heiden“, sagt Pfarrer Wolfgang Kresák. „Mir fällt nur gerade keiner ein.“ Keine zwei Minuten zu Fuß dauert es vom Rathaus zur Kirche. Ein Katzensprung. Seit 2007 betreut Kresák die Gemeinde, ein groß gewachsener Mann mit wohltönender Stimme, der gern und ausschweifend redet. Über Gottes Liebe zum Beispiel oder wie zu Zeiten der Reformation der hiesige Pfarrer evangelisch habe werden wollen und die Bauern ihn darob mit Knüppeln aus dem Ort vertrieben. Die Reformation hat seither einen Bogen gemacht um Wittichenau.

Des Pfarrers Kirche dominiert auch optisch die Kleinstadt. Hoch ragt der helle Kirchturm der barocken „Mariä Himmelfahrt“. Erst vor wenigen Jahren mit öffentlichen und EU-Mitteln saniert, strahlt das Gotteshaus hell im Ortskern. Über die Kosten schweigt der 57-Jährige. Die Gemeinde ist dankbar und spendabel.

Die Kirche betreibt ein Altenheim, ein Kinderhaus, einen Friedhof. Sie ist dabei, wenn die Wittichenauer feiern. Sie stärkt ihnen den Rücken, wenn sie kämpfen. „Jeder bringt sich ein für etwas Gutes“, sagt der Pfarrer und zählt auf: „Hier gibt es weniger Kriminalität, weniger Graffiti, und die Menschen machen noch von sich aus am Samstag die Wege vor ihrer Haustür sauber.“ Und sie achten auf ihre Nachbarn.

Das war schon immer so. „Es hätte sich niemand von der Stasi getraut, zu unseren Veranstaltungen zu kommen,“ sagt Herbert Kobalz, der Vorsitzende des Karnevalsvereins. Seit 309 Jahren feiern die Wittichenauer ihren Karneval. Seit den 1960er-Jahren ist Herbert Kobalz dabei. Wie schon zuvor sein Vater. Seine Tollität Prinz Herbert von Chaiselongue war er, der Möbelpolsterer, eine Majestät mit Narrenkappe. „Für einen Wittichenauer gehört es sich einfach, beim Karneval mitzumachen“, sagt er. Dass die Tradition die DDR überlebte und nun weiterlebt, läge an der Religion.

Wittichenau war eine Enklave, ein katholischer Flecken, umgeben von Protestanten und Heiden. Der Druck von außen ließ die Menschen zusammenrücken. Wie das gallische Dorf von Asterix und Obelix wehrte man sich gegen die Römer aus Hoyerswerda. „Zu DDR-Zeiten ging es den Leuten hier nicht so besonders“, sagt der Bürgermeister. „Zumindest damals hatte der Pfarrer mehr zu sagen als der Bürgermeister“, sagt der Karnevalspräsident. In diese verschworene Gemeinschaft einzutreten war schwierig. „Vielleicht gelten die Wittichenauer auch deswegen manchen als arrogant“, sagt Markus Posch.

Eine hat es trotzdem geschafft. Vor 54 Jahren zog Marlies Hantschke von Duisburg nach Wittichenau. Ganz fremd war sie nicht. Ihre Eltern stammten aus der Gegend, und bei Besuchen in der alten Heimat verliebt sich die junge Marlies in Egon. Sie heirateten. „Hochzeit feiern ist eine Tradition in W.“, schreibt die 77-Jährige in ihrem Buch „Herzschlag zwischen Ost und West“. „Hochzeiten haben ihre eigenen Spielregeln und Formalitäten, die seit Menschengedenken eingehalten werden ... Hier gehört die ganze Stadt dazu.“ Wenn die Menschen in Wittichenau essen, trinken, schlafen, leben könnten, dann könne sie das ja wohl auch, habe sie damals gedacht und sich nirgends jemals wohler gefühlt. Ihr Mann führt die Chronik des Karnevalsvereins, bis er 2008 stirbt. Ihre Tochter kehrte vor nicht allzu langer Zeit, krank vor Heimweh, aus der Ferne zurück nach Wittichenau. Die Wendezeit habe alle hier gebeutelt, sagt Marlies Hantschke. „Aber wir halten zusammen.“

Zurück am Küchentisch der Familie Schenker. Die mittlere Tochter verlangt nach einem Keks, bekommt ihn. Jasmin Schenker erzählt von ihren ersten Treffen mit Frauen des Weiberfaschings. Vom Kostüm dürfe ihr Mann erst zum Karneval erfahren. Mit den Kindern gehen sie regelmäßig in die Kirche. Die Großeltern leben in der Nähe, bei ihnen die Kaninchen der Mädchen. Die Älteste nimmt Reitstunden. Neulich habe die Achtjährige gesagt: „Wenn ich groß bin, gehe ich vielleicht für ein, zwei Jahre ins Ausland. Aber dann komme ich wieder und arbeite als Lehrerin in Wittichenau.“

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