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Die Hochburg der Nichtwähler

Nie gingen so wenige Sachsen, Thüringer und Anhaltiner zur Wahl. Aber es gibt auch eine Konstante: Arzberg bei Torgau ist wieder Schlusslicht. Warum hat der kleine Ort keine Lust auf Demokratie?

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© Matthias Rietschel

Von Doreen Reinhard

Die Gemeinde Arzberg ist alles andere als spektakulär. Das sagen sogar die, die gern hier leben. Es gibt nicht viel, das Fremde anlocken könnte, nur jede Menge plattes Land im nördlichsten Zipfel von Sachsen. Kühe, Kirchtürme, Wiesen, Äcker, Stille. Ländliche Idylle sagen die Einheimischen. Tiefste Provinz lästern Auswärtige. Aufsehen erregen die 2.600 Arzberger selten, am wenigsten mit Rekorden; und doch gibt es einen, den sie seit Jahren halten: Sie sind das Schlusslicht der sächsischen Demokratie.

Die Gemeinde wenige Tage nach der Wahl. Parteienwerbung ist auch in der Ortsmitte kaum zu sehen.
Die Gemeinde wenige Tage nach der Wahl. Parteienwerbung ist auch in der Ortsmitte kaum zu sehen. © Matthias Rietschel

Und ein Rätsel für die Politik, denn die Mehrheit der Arzberger verweigert so gut wie jede Entscheidung an der Urne, egal, ob der Bundestag oder das Europaparlament neu aufgestellt wird.

Die Landtagswahl hat vor zwei Wochen einen neuen Negativ-Rekord hervorgebracht: 49,2 Prozent Beteiligung. Noch nie haben so wenige Sachsen ihre Stimme abgegeben. In der Statistik gab es aber auch eine Konstante: Arzberg war wieder auf dem letzten Platz. Von 1.699 wahlberechtigten Bewohnern wollten nur 28,9 Prozent die Zukunft Sachsens mitgestalten.

Sind die Arzberger die Spitze des Eisbergs? Der Gipfel der Politikverdrossenheit? Danach klingt vieles, wenn man in der Gemeinde wahllos Nichtwähler befragt. Eine ältere Frau hat ihre Stimme nicht abgegeben, weil nun die Jugend über die Zukunft entscheiden soll. Eine Junge erklärt, dass sie mit den Gesichtern auf den Wahlplakaten nichts anfangen konnte und deshalb auf ihr Kreuz verzichtet hat. Ein Mann findet, dass er sowieso nichts ändern kann. Einem anderen war am letzten August-Sonntag das Wetter zu schlecht. Kompletter Rückzug aus der Politik? Fast.

Wie man auch zur Regierung im 100 Kilometer entfernten Dresden steht; auf die vor der eigenen Haustür lässt in Arzberg niemand etwas kommen. Um die Tücken des lokalen Lebens in den Griff zu kriegen, da verlassen sich Arzberger lieber auf den Bürgermeister.

Der wiederum könnte sich schönere Schlagzeilen über seine Gemeinde vorstellen als „Die Hochburg der Nichtwähler“. Hartmut Krieg schüttelt den Kopf. „Es gibt natürlich Besseres, um von sich reden zu machen. Aber wie heißt es: Auch schlechte Werbung ist Werbung.“ Die Hauptsache für ihn: Man redet überhaupt von diesem Fleckchen Erde, auf dem er vor 69 Jahren geboren wurde und den er wie keinen anderen liebt. Der nichts Besonderes ist und deshalb oft vergessen wird. Hartmut Krieg hat damit seine Erfahrungen gemacht, vor allem in den letzten zehn Jahren als ehrenamtlicher Bürgermeister.

Wenn man im Ort überhaupt von Wahlerfolgen reden kann, dann hat er sie eingeheimst. Massen konnte auch er nicht mobilisieren. Knapp 30 Prozent der Bürger haben an der letzten Bürgermeister-Entscheidung vor drei Jahren teilgenommen, aber sie haben zu 95 Prozent Hartmut Krieg gewählt. Der frühere Schlosser, der für die CDU antritt, gilt als Idealist, der für seine Heimat kämpft wie ein Löwe. Der stur und eigensinnig sein kann, aber für Probleme unkonventionelle Lösungen durchboxt. Nur am altbekannten Arzberger Leiden hat sich auch Löwe Hartmut Krieg bisher die Zähne ausgebissen.

Ausreden für die Demokratie-Trägheit seiner Bürger lässt er auch nach der Landtagswahl nicht gelten, von wegen Regen und Termin am letzten Ferientag. Nur eine treibt ihn um: Gut möglich, dass den Arzbergern der Weg an die Urne auch dieses Mal zu weit war. In einer Stadt ist das ein Spaziergang von ein paar Minuten. In Arzberg ein Ausflug, der dauern kann. Denn die Gemeinde besteht aus 19 Ortsteilen, der kleinste hat gerade mal 13 Einwohner. Und sie erstreckt sich über knapp 60 Quadratkilometer. Bei Abstimmungen sind im gesamten Gebiet nur zwei Wahllokale geöffnet. Im schlechtesten Fall muss man dahin über zehn Kilometer weit fahren. Im Gemeinderat wurde diese Hürde oft besprochen, es gibt auch eine Idee. Mobile Wahllokale. „Damit könnten wir zu den Wählern fahren. Bei uns leben viele ältere Menschen, für die der Weg umständlich ist“, sagt Hartmut Krieg.

Die meisten Arzberger Lösungen sind Lehrstücke vom Leben auf dem Land. Beispiele, wie man die Vitalfunktionen einer Gemeinde erhält, wenn diese immer älter und leerer wird. Jobs gibt es kaum, auch die beiden Töchter von Bürgermeister Krieg sind längst in den Odenwald gezogen. Politik von der Stange funktioniert hier nicht, findet er. Also hat er mit seinen Bürgern maßgeschneiderte Antworten gefunden.

Vor ein paar Jahren sollte der Konsum schließen, die einzige Einkaufsmöglichkeit in der Gemeinde. Die Arzberger wehrten sich, und Hartmut Krieg besorgte ein Puzzle mit 1.000 Teilen. Jeder sollte ein Stück kaufen, damit der Laden erhalten werden kann. Gut 6.000 Euro sind zusammengekommen. Mit dem Geld wurde die Fassade des Markts saniert und eine Rampe am Eingang gebaut, damit man auch mit Rollator einkaufen gehen kann. Das Engagement hat beeindruckt. Man fand einen neuen Investor, der seither alles Nötige verkauft, vom Aufback-Brötchen bis zum Spülmittel.

Erfinderisch wurden die Arzberger auch bei der Suche nach einem neuen Hausarzt. Fünf Jahre lang gab es in der Gemeinde keinen, nachdem sich der letzte in den Ruhestand verabschiedet hatte. Die Bürger fuhren teilweise 20 Kilometer bis zur nächsten Sprechstunde in den umliegenden Orten. Und sie verbreiteten Aufrufe in den Medizin-Fakultäten sämtlicher Universitäten in Sachsen. Gesucht: Dorfarzt für Arzberg. „Gebracht hat das nichts“, sagt Hartmut Krieg. „Keiner wollte hierher.“ Also mussten sie ihren Radius erweitern, nach Osteuropa. Den gleichen Aufruf veröffentlichten sie in Zeitschriften von Bulgarien bis Russland, bei der Übersetzung half die Volkshochschule in Torgau. Immerhin 17 Bewerber stellten sich daraufhin in Ostelbien vor. Erst Nummer 18 wollte bleiben, Frau Doktor Szuszana Vida aus Ungarn. Um sie an die Region zu binden, ging auch die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen einen neuen Weg. Damit der Start für die Ärztin leichter wird, half die Behörde bei der Einrichtung ihrer Praxis und stellte sie für die ersten beiden Jahre an. Weil die Bürokratie allerdings einige Monate in Anspruch nahm, sprangen wieder die Arzberger ein und kauften für die Neuankömmlinge Lebensmittel ein.

Die haben sich revanchiert. Auf indirekte Weise. Denn zur ungarischen Familie gehören sechs Kinder. Eines davon war damals im Grundschulalter und hat die hiesige Schule vor der Schließung bewahrt. Die droht den Arzbergern jedes Jahr, laut Schulgesetz muss eine erste Klasse mit 15 Kindern gefüllt sein. Um diese Zahl wird jedes Jahr gerungen; viele Geburten gibt es im Ort nicht. Also war schon häufig Kreativität gefragt, um den Schlüssel zu erfüllen. „In einem Jahr haben wir uns sogar ein Kind gekauft“, sagt Hartmut Krieg. Soll heißen: „Wir haben eine Familie überzeugt, ihr Kind bei den Großeltern im Ort anzumelden. Im Gegenzug haben wir sie bei den Fahrtkosten unterstützt.“ Durch diesen Umweg war die Zahl 15 geknackt – zumindest für ein Schuljahr.

Vom Tisch war das Problem jedoch nie. „Wir haben keine dauerhafte Sicherheit“, sagt der Bürgermeister. Gespräche darüber finden ständig statt, unter anderem mit Frank Kupfer, dem Vorsitzenden der sächsischen CDU-Fraktion. Arzberg gehört zu seinem Wahlkreis, sein Mandat hat er gerade mit knapp 47 Prozent verteidigt. Die traditionell niedrige Wahlbeteiligung in der Gemeinde ist allerdings auch ihm ein Rätsel. „Sie können mir glauben, ich habe Arzberg immer im Blick und viel für die Gemeinde getan“, sagt Kupfer und zählt auf. Er habe sich immer wieder für Fördermittel starkgemacht, die zum Beispiel in den Erhalt der Schule fließen. Und mit Bildungsministerin Brunhild Kurth einen Vorschlag für deren Zukunft entwickelt: jahrgangsübergreifenden Unterricht. Die Klassen eins und zwei sowie drei und vier sollen gemeinsam unterrichtet werden. Die Arzberger halten nicht viel von diesem Konzept, bisher blieb es im Gemeinderat stecken. Minister Kupfer fühlt sich in seinen Bemühungen enttäuscht, auch mit Blick auf die geringe Wahlbeteiligung in Arzberg. Um die zu stärken, fällt auch ihm nicht mehr ein als der Satz: „Dankbarkeit ist keine politische Kategorie.“

Noch in einer anderen Angelegenheit hatte Frank Kupfer kürzlich Neuigkeiten für die Arzberger. Stichwort: Abwasser-Skandal. Der ist neben allen anderen Zipperlein die Achillesferse der Gemeinde. Ein vertracktes Thema. Vor 20 Jahren wurde der marode Abwasserzweckverband der Region privatisiert, man sprach von Rettung. Die damalige sächsische Regierung Biedenkopf unterstützte den aufwendigen Bau als Modellvorhaben. Finanziert wurde er über einen Fonds, in den Anleger einzahlen, dafür wurden ihnen satte Gewinne versprochen. Heute verdammen ihn die meisten als Luxus-Pleite. Der Betrieb der Anlagen entpuppte sich bald als zu teuer, die Ausgaben belasten bis heute Bürger und Gemeinde. Für 2014 hatte sie sich von der Landesregierung eine komplette Entschuldung erhofft. Bisher zahlt Arzberg jedes Jahr 51 Euro pro Einwohner. Geld, das man für andere Projekte dringender gebrauchen könnte.

Igor Rogasch ist Mitglied in der Bürgerinitiative gegen unsoziale Kommunalgaben, die seit Jahren gegen das Abwasser-Desaster kämpft, und frustriert über den aktuellen Stand. „Das Angebot, in das wir große Hoffnungen gesetzt hatten, kam kurz vor der Landtagswahl und wurde als großer Wurf dargestellt, ist aber völlig unzureichend.“ Zwar wurden die Abgaben auf 15 Euro pro Einwohner herabgesetzt, „aber auch diese Summe wird die Gemeinde in den nächsten Jahren belasten“.

Enttäuscht von der Landespolitik ist Rogasch schon lange und ebenfalls ein Anhänger der Arzberger Kleinst-Politik: „In den vergangenen Jahren hat es sich als richtig erwiesen, unseren eigenen Weg zu gehen. Sonst hätten wir vieles nicht mehr, die Schule, den Arzt, den Dorfladen.“ Ein Wahl-Verweigerer ist er nicht, aber sein größtes Vertrauen hat der Bürgermeister.

Der Kämpfer muss nun allerdings erst einmal für sich selbst kämpfen. Vor einem halben Jahr wurde bei Hartmut Krieg Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert, seither hat er 30 Kilo abgenommen. Die Krankheit hat ihn gezeichnet, aber die Arbeit will er sich von ihr nicht nehmen lassen. Zu seinen Kollegen im Gemeinderat hat er gesagt: „Ich will nicht zu Hause sitzen und grübeln. Lasst mich meinen Dienst weitermachen.“ Fast jeden Tag kommt er in sein Büro, um die nächsten Schritte für Arzberg zu planen. Gerade treibt ihn eine Immobilie um. Neben dem Gemeindeamt steht eine alte Werkshalle, die eine junge Familie kaufen will – eine Sensation für den Ort, den in den vergangenen Jahren mehr Menschen verlassen als bezogen haben. „Das wäre doch toll“, sagt Hartmut Krieg. „Ich sage immer: Man muss für alles Menschen finden, die einen Plan haben und einfach loslegen.“ Und dann verabschiedet sich der Bürgermeister mit einem letzten Satz: „Danke, dass Sie sich für Arzberg interessiert haben.“ Und er spendiert noch einen Kugelschreiber, auf den die Adresse der Gemeinde gedruckt ist. Arzberg kämpft für sich selbst. Auch, wenn der Wahlkampf längst beendet ist.