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Die Insel der Hoffnung

Im Vietnamkrieg entsandte die Bundesrepublik ein Hospitalschiff. Eine vergessene, aber berührende Geschichte. Auch die DDR spielte in Asien eine Rolle.

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© Archiv Martin Fiedler/DRK

Von Tobias Wolf

Diese Szenen kann Martin Fiedler nicht vergessen. Die stundenlangen Explosionen von Minen, Granaten und Bomben, alle 20 Sekunden eine Detonation. Fast zwei Tage lang. Flammen und Rauchpilze, die die Luft glutrot und den Himmel schwarz färben. Damals in Südvietnam, als Raketen das Munitionsdepot der amerikanischen Luftwaffenbasis in der Hafenstadt Da Nang treffen. Irgendwann um 1970. Fiedler, damals um die 30, erlebt das auf dem deutschen Hospitalschiff Helgoland. „Die Explosionen waren so stark, dass an Bord die Lampen wackelten“, sagt der heute 78-Jährige.

Der Arzt Eike Friedrich verabschiedet sich 1970 am Flughafen von seiner Frau, die erst Monate später nach Hause fliegt.
Der Arzt Eike Friedrich verabschiedet sich 1970 am Flughafen von seiner Frau, die erst Monate später nach Hause fliegt. © Archiv Martin Fiedler/DRK
Mit vielen Kindern hatte der Pfleger Martin Fiedler auf der Helgoland zu tun. Sie litten am meisten unter dem Krieg.
Mit vielen Kindern hatte der Pfleger Martin Fiedler auf der Helgoland zu tun. Sie litten am meisten unter dem Krieg. © Archiv Martin Fiedler/DRK
© Archiv Martin Fiedler/DRK

Der Vietnamkrieg drängt sich erstmals brutal ins Bewusstsein des Krankenpflegers, der sich freiwillig für den Einsatz auf der Helgoland gemeldet hat und sonst nur dessen Opfer sieht. Vor allem die Kinder. Er hat noch ein Foto, das jemand während des Angriffs vom Schiff gemacht hat. Die Helgoland, vorher ein Bäderschiff für 1 500 Passagiere im Nordseeverkehr, hatte beim Angriff den Liegeplatz am Fluss im Stadtgebiet verlassen und wartet in einer Bucht ab. Wie immer bei Attacken des Vietcong, wie die kommunistischen Kämpfer im Westen genannt werden. Boote bringen später Verletzte an Bord. Mit 150 Betten hat das Schiff des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) die Größe eines Kreiskrankenhauses. Das Neue Deutschland geißelt das westdeutsche DRK mit Schlagzeilen wie „Helgoland-Einsatz unterstützt Aggressoren“. Dabei ist auch das Rote Kreuz der DDR in Vietnam aktiv, nur eben im sozialistischen Teil. Mit der Lieferung von Medikamenten, Verbandsmaterial, chirurgischen Instrumenten und Blutspenden, die nach Hanoi geflogen werden, die Hauptstadt des Nordens.

Martin Fiedlers Erinnerungen gehören zu einer Geschichte, die in Ostdeutschland so gut wie unbekannt und auch im Westen längst vergessen ist. Die mit dem Kalten Krieg zu tun hat, dessen heiße Auseinandersetzungen außerhalb Europas stattfanden. Dafür umso härter. Wie im Vietnamkrieg. Das schwimmende DRK-Krankenhaus sollte im Auftrag der damaligen Bundesregierung zivile Kriegsopfer versorgen. Eine Geste der Bündnissolidarität, die die Amerikaner seit Mitte der Sechziger von der Bundesrepublik forderten. Vom früheren US-Verteidigungsminister Robert McNamara ist der Satz überliefert: „Die Verteidigung von Berlin beginnt am Mekong.“ Statt der Bundeswehr entsendet Bonn die Helgoland. Von 1966 an war das Schiff fünf Jahre lang eine humanitäre Insel mitten im Krieg. Die meiste Zeit in Da Nang, nicht weit von der damaligen Grenze zwischen Nord- und Südvietnam.

An diesem Freitag hat ein Festakt im Bonner Haus der Geschichte daran erinnert. 45 Jahre nach Ende des wohl größten DRK-Auslandseinsatzes. Mit Ministern, Zeitzeugen, Rotkreuz-Funktionären, Botschaftern aus Vietnam und Südkorea. Mit dabei war auch ein kleines Schiffsmodell, das sonst im Militärhistorischen Museum Dresden steht. Das Modell haben die Restauratoren des Museums für die Gedenkfeier verschickt. Sie war ein Wiedersehen für jene, die dabei waren und noch leben.

Martin Fiedler, der nach Vietnam in Bad Salzuflen eine Heilpraxis betrieb, erzählt, dass just in den Tagen des Angriffs auf das Munitionslager eine Gruppe Bundestagsabgeordneter auf der Helgoland war. „Die wollten uns die Gefahrenzulage streichen.“ Dann sehen die Parlamentarier Explosionen. „Wir sind auf Reede gefahren und später zurückgekehrt, um Verletzte zu behandeln“, sagt Fiedler. „Die Abgeordneten haben uns dann nichts mehr gestrichen, sie hatten die Hosen eher gestrichen voll.“

Fiedler, grauer Kinnbart, das Haar gescheitelt, denkt gern an die Zeit zurück. Er hilft schon sein Leben lang, war vorher in Israel Leiter eines Kinderheims und später mit den Vereinten Nationen in Nigeria und Ruanda. Nach keinem Land sehnte er sich so zurück, wie nach Vietnam. Obwohl er dort heftige Dinge sah. „Splitterverletzungen von Granaten, Napalmverbrennungen, Schussverletzungen, sehr viele“, erzählt er.

Obwohl die technischen und hygienischen Bedingungen auf dem höchsten Stand sind, kämpfen die Freiwilligen mit widrigen Umständen, fahren Verletzte oft mit eigenen Krankenwagen vor. Über eine schmale Gangway werden sie ins Innere getragen, durch verwinkelte Gänge bis in die engen Operationssäle. Auf den Krankenstationen sieht es nicht besser aus. 250 Patienten kommen täglich, aber nur 150 können versorgt werden. Nach schweren Angriffen sind es noch mehr.

Erholen können sich Ärzte und Schwestern von den anstrengenden Diensten kaum, weil sie nicht von Bord gehen sollen. Aus Sicherheitsgründen. Dafür gibt es ab und zu Feiern zur Ablenkung, die in westdeutschen Medien zu Orgien hochgeschrieben werden, was auf der Helgoland für Empörung sorgt.

Neurochirurg Eike Friedrich war auch in Da Nang. Er habe hautnah erlebt, was Krieg bedeutet, sagt er mit weicher Stimme. Eine Krankenschwester begeistert ihn damals für den Einsatz, die gerade aus Vietnam an die Uni-Klinik Bonn zurückgekehrt war. Am Silvestertag 1970 beginnt die Mission. Auf dem Flug von Frankfurt am Main nach Saigon lernt Friedrich seine spätere Frau kennen. „Gleich in der ersten Nacht gab es einen größeren Angriff des Vietcongs auf Da Nang“, sagt der heute 76-Jährige. „Wir waren gleich voll in Aktion, haben 24 Stunden am Stück operiert.“ Drei Chirurgen an drei Tischen. Zwischendurch hält der Smutje den Operateuren Getränke mit Strohhalm an die Lippen. Die Feuertaufe. „Ich hatte einen Mann auf dem Tisch, der hatte eine Verletzung durch Granatspliter durch die Schläfe hindurch“, sagt der pensionierte Arzt. „Ich musste beide Augen entfernen und einen Defekt in der Hirnhaut nähen.“

Den nächsten haben Minensplitter getroffen, Leber, Milz und Darm sind verletzt. Die Ärzte arbeiten unter Hochdruck. Sind die Organe richtig vernäht, die Blutgefäße richtig abgetrennt. „Man wundert sich in solchen Momenten, was man alles kann, obwohl man es vorher nur in der Vorlesung gehört hat“, sagt Friedrich leise. „Alles Seelische koppelt man ab.“ Den Krieg habe er im Kopf ausgeschaltet. „Man erlebt zu viel, sieht in sieben Monaten Dinge, an die zuhause kein Chirurg in fünf oder sechs Jahren herankommt.“ Zerfetzte oder verbrannte Körper, Schussverletzungen. Nicht jeder kann gerettet werden.

Das Haar und den Bart lassen die Männer auf der Helgoland wachsen. Um sich bei Landgängen von den glattrasierten und kurzgeschorenen US-Soldaten zu unterscheiden und als Helfer erkennbar zu sein. „Den Amis haben sie Granaten unter die Jeeps geschoben.“ Auf der Helgoland wird jeder behandelt. „Da waren auch welche vom Vietcong bei uns, das wussten wir“, sagt Friedrich. „Als Arzt fragt man da nicht nach, und es war ein Schutz für uns.“ Eine Lebensversicherung für das Personal, weil alle Kriegsparteien das Schiff respektierten und nie angriffen. Die Helgoland sei immer aufs offene Meer gefahren, sobald der Vietcong aus Bambusrohren Raketen auf Da Nang abfeuerte. Nach sieben Monaten fliegt Friedrich nach Hause, seine künftige Frau drei Monate später. Genau ein Jahr nach dem Abflug nach Saigon heiraten sie. Die Helgoland hat viele Ehen gestiftet.

Auch die Vietnamesen erinnern sich gern an das Schiff. Nicht von ungefähr. Die Deutschen operieren 11 000 Menschen in gut fünf Jahren, behandeln 200 000 Patienten ambulant und 12 000 stationär. In einem Land fast ohne ärztliche Versorgung. Als der Einsatz zu Ende geht, bleiben Medikamente, Autos und Inventar vor Ort.

Der gebürtige Chemnitzer Hans-Peter Paulenz ist einer der letzten, die auf der Helgoland in Vietnam Dienst tun. 1971 ist er schon zum zweiten Mal auf dem Schiff. Er habe sich um die 90 Mitarbeiter des lokalen Personals gekümmert und den Nachschub organisiert. „Alle drei Monate kam ein Versorgungsschiff aus Deutschland“, sagt der heute 73-Jährige. „Wir mussten dafür aus der Drei-Meilen-Zone heraus und haben die Ladung auf See übernommen.“ 90 Tonnen inklusive deutsches Bier für die Amerikaner, die den Rotkreuzlern halfen. Mit medizinischen Gasen. Oder Transporten von Blutkonserven, weil die Lufthansa nur bis Bangkok fliegen durfte.

Das Leid macht Paulenz zu schaffen. „Der Anblick der zerschossenen und verstümmelten Menschen, die morgens an der Pier auf Tragen lagen, war schrecklich“, sagt er. Die Kinder. „Manche hatten Granatsplitter im Kopf, die habe ich mit Rotlicht mit dem Bulli auch in amerikanische Hospitäler gefahren, wenn wir mit Bordmitteln nicht zurecht kamen.“ Die Verletzlichkeit der Helgoland sei ihm bewusst gewesen. „Eine Handgranate auf das Achterdeck hätte gereicht, um alles in die Luft zu jagen, dort standen die Gase“, sagt Paulenz.

Der Vietcong habe das Schiff stillschweigend akzeptiert, weil es der Bevölkerung diente. Die Kämpfer kamen ja auch manchmal. „Wenn Leute, die gerade erst zusammengeflickt worden waren, schnell wieder von Bord verschwanden, da wussten wir, das sind Vietcong-Soldaten, die in Zivilkleidung zu uns gekommen waren.“ Bei jenen sei auch keine Familie zu Besuch gekommen. Ein sicheres Zeichen. „Darüber wurde nie gesprochen.“ Die Helgoland war neutrales Terrain, stand unter dem Schutz des Völkerrechts.

Schon der Beginn des Helgoland-Einsatzes hatte erahnen lassen, was auf das Personal zukommen würde. Damals, am 14. September 1966, als die Helgoland nach vier Wochen Überfahrt von Hamburg in den Saigonfluss einläuft. Gut 60 Kilometer sind es bis zum Quai de Belgique in der Hauptstadt Südvietnams. Eine gefährliche Strecke, das Ostufer wird vom Vietcong kontrolliert. US-Kampfhubschrauber und Schnellboote eskortieren das Schiff, schießen dabei auf Treibholz, weil oft Minen in den Bündeln versteckt sind. Die Gegner antworten mit Schüssen, zielen aber nicht auf die Helgoland. Unbeschadet erreicht das Schiff sein Ziel, legt direkt vor dem Hotel Majestic an, einem französischen Kolonialbau, der heute ein Fünfsternehaus ist. Am Pier davor errichtet die Besatzung eine Ambulanz aus Zelten.

Im ersten DRK-Team für Saigon sind sieben Ärzte, 20 Schwestern, acht Pfleger und Mitarbeiter für Verwaltung, einheimische Hilfskräfte und die Seeleute. Insgesamt 272 DRK-Mitarbeiter kommen nach Vietnam, manche mehrmals. Weil vom Krieg mitten in Saigon kaum etwas zu spüren ist und die Ärzte viele Krankheiten, aber wenig Verletzte behandeln, wird das Schiff ein knappes Jahr später nach Da Nang verlegt.

Vor zehn Jahren war der Neurochirurg Eike Friedrich noch einmal dort, auch oben auf dem Wolkenpass, von dem aus die Stadt und die frühere Pier der Helgoland zu sehen sind. Er traf auf eine Schweizer Reisegruppe. „Die Dolmetscherin erklärte, dass die Vietnamesen die Helgoland bis heute ,das weiße Schiff der Hoffnung` nennen.“ Friedrich ist Teil dieser Geschichte. Wie so viele. Die humanitäre Geste der Deutschen, sie bleibt in Vietnam für alle Zeit. Auch wenn es die Helgoland jetzt nur noch als kleines Modell in Dresden gibt. Das Original wurde mehrfach umgebaut und kreuzt heute als Luxus-Exkursionsschiff vor den Galapagos-Inseln im Pazifik.