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Die Jagd nach dem Phantom

Und noch immer keine heiße Spur: Seit über zwei Jahren sucht die Polizei im Raum Dresden mit riesigem Aufwand nach einem Kinderschänder.

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Von Alexander Schneider

Man könnte es kreatives Chaos nennen. Zwischen Aktenordnern, Bergen von Notizzetteln und Kaffeetassen surren leise die Computer. 18 Polizeibeamte haben sich im Großraumbüro im Haus 5 des Landeskriminalamts Sachsen breitgemacht, füttern die Computer mit immer neuen Details. Sie jagen einen Kinderschänder, der vor über zwei Jahren ein neun- und ein elfjähriges Mädchen missbraucht haben soll. Steckbriefe des Täters hängen an den Wänden, Karten im XXL-Format vom Tatgebiet im Norden Dresdens. Eingezeichnet sind Entführungsorte, mögliche Fahrtrouten, Straßenbahnlinien, markante Punkte. Auch Fotos von Autotypen kleben an der Tapete, die Entführungsorte, Skizzen von Gebäudefassaden, an die sich die entführten Kinder auf der Fahrt zum Tatort erinnern konnten. Hier ist die Zentrale der Sonderkommission (Soko) Heller.

Mittendrin sitzt Raiko Märtins, der Chef der Soko. Der 38-jährige Kriminalhauptkommissar, ein jugendlich wirkender, schlanker Zwei-Meter-Mann, der stets Anzug und Krawatte trägt, zählt zu den jüngeren Kollegen. Er lebt in Dresden und hat selbst zwei Kinder im Alter der Opfer. „Natürlich spielt das bei der Arbeit immer eine Rolle“, sagt er. Seit eineinhalb Jahren, als die Soko von der Dresdner Kripo zum Landeskriminalamt wechselte, macht Märtins nichts anderes, als diesen einen Täter zu suchen. Er hat alle Daten und Zahlen des Falls präsent. Er braucht eigentlich keinen Computer.

Unüberschaubarer Massentest

Doch die Fahndung ist wie verhext: Sachsens meistgesuchter Kinderschänder hatte keinerlei Anstalten unternommen, seine Spuren zu verwischen, als er im September 2005 und im Januar 2006 zwei Mädchen entführte und missbrauchte. „Er war nicht maskiert und hat die Kinder in Wohngebieten in die Autos gezerrt“, sagt Märtins. „Wir haben seine DNA.“ Gottlob habe der Unbekannte die Mädchen wieder laufen lassen und sie konnten später aussagen. Trotzdem gibt es keine heiße Spur – auch nach zwei Jahren noch nicht. Niemand hat die Entführungen beobachtet, niemandem sind die Autos aufgefallen. In keiner Datenbank sind die gefundenen DNA-Spuren registriert.

Raiko Märtins und seine Soko suchen dieses Phantom mit allem, was die Kriminalistik hergibt: mit dem aufwendigsten Massengentest, den es in Deutschland je gab. Mit der wohl größten Datenbank eines Falls, mit psychologischen Täter-Analysen von Profilern. Der enorme Aufwand (Kosten bisher: 259566,66Euro) hat einen Grund: „Wir fürchten, dass sich der Täter wieder an einem Kind vergeht“, sagt Märtins. Vielleicht morgen, vielleicht erst in einigen Jahren.

Fast alle geben Speichel ab

Diese Sorge war es auch, die die Staatsanwaltschaft im Juli 2006 dazu brachte, den größten freiwilligen DNA-Test der deutschen Kriminalgeschichte zu initiieren. Ein Mammut-Projekt. Weil der Täter gute Ortskenntnisse besitzen muss, hat die Soko Männer im Dresdner Norden und im Umland zur freiwilligen Speichelprobe geladen. Fast 130000Männer kommen in Frage, die Überprüfung kann sich noch über Jahre hinziehen. In Schulen, Turnhallen und Polizeirevieren wurden bisher 12132 DNA-Proben gesammelt, weitere 5655 Männer konnten ohne Test als Täter ausgeschlossen werden. Sie haben ein Alibi oder ihr Äußeres passt nicht.

Ziel des Tests war es, eine unübersichtliche Masse Männer schnell in eine überschaubare Größe zu verwandeln. Doch schnell ging das nicht, und überschaubar ist das Ergebnis auch nicht geworden. Besonders aufwendig sind dafür die Nachermittlungen, weil viele der angeschriebenen Männer nicht erreicht wurden oder nicht erschienen – gut 600 sind noch offen. Nur 68 Männer indes lehnten ihre Mitwirkung grundsätzlich ab.

Um jetzt, da das Umland abgehakt ist und der Test in ganz Dresden fortgesetzt wird, nicht im Daten-Chaos zu versinken, werden vorerst nur Männer geladen, die bestimmte Kriterien erfüllen. Etwa, dass schon gegen sie ermittelt wurde, dass sich in ihrem Lebenslauf eine Beziehung zu den Tatorten ergibt, oder dass sie dem Phantombild des Täters ähnlich sehen. Hinter dem, was Märtins „Priorisierung“ nennt, verbirgt sich nichts anderes als eine Rasterfahndung. Die Meldedaten der Männer werden zunächst mit anderen Daten abgeglichen, ehe sie zur Speichelprobe gebeten werden. Doch was, wenn der Täter im Zeitraum seiner Taten gar nicht hier gemeldet war? Märtins gibt zu: „Natürlich, besteht die Möglichkeit. Das ist uns klar. Trotzdem war es richtig, mit Bezügen zu den Tatorten anzufangen.“

Was traditionelle Kripoarbeit angeht – damit sind mehr Beamte als mit dem Massentest befasst – bleibt der Soko-Chef nüchtern. „Wir tun, was wir können und arbeiten jede Spur einzeln ab.“ Im mehrseitigen Ermittlungsplan ist alles dokumentiert. „Wir dürfen uns nicht verzetteln“, sagt der Kommissar. An Überraschungen glaubt er nicht. „Viele Leute haben intensiv über alle Möglichkeiten nachgedacht.“

Kein typischer Pädophiler

So haben drei Fallanalysten, sogenannte Profiler, unabhängig voneinander herausgefunden, dass es sich bei dem Gesuchten nicht um einen klassischen Pädophilen handele. „Unser Mann hat die Kinder entführt, weil er bei Frauen nicht zum Zuge kommt“, vermutet Märtins. Dass es dem Täter einen besonderen Kick gebe, sich gerade an Kindern zu vergehen, sei nicht erkennbar. Seine Gespräche mit den Opfern etwa blieben auf das Nötigste beschränkt. „Ein Pädophiler hätte viel intensiver mit den Kindern kommuniziert“, sagt der Kriminalist. „Der Täter hat zwar Kinder gewählt, mit ihnen aber sexuelle Handlungen wie mit Frauen durchgeführt.“ Märtins Fazit: Es handelt sich um einen verklemmten Mann mit so gut wie keinen sexuellen Erfahrungen. „Oder er hat Enttäuschungen erlebt, die er kompensieren muss. Gegenüber Kindern kann er seine absolute Machtstellung ausleben.“ Erstaunlich sei, dass das Phantombild des Täters einen eher attraktiven Mann zeige. „Seine Erscheinung ist nicht abstoßend, aber im Kopf ist er halt anders gewickelt“, sagt der Polizist.

Unauffälliger netter Nachbar?

Auch denkbar sei, dass es sich um einen Typ „netter Nachbar“ handle, der in unauffälligen familiären Verhältnissen lebt, etwa bei seiner Mutter. Der Mann kann gut mit Kindern umgehen und sie beruhigen. Märtins: „Als er eines der Mädchen entließ, hat er ihm drei Euro gegeben und es gefragt, ob es nun alleine nach Hause finde.“

Selten hat sich die Polizei so intensiv in die Karten sehen lassen wie in diesem Fall. Märtins Truppe steht unter hohem Erfolgsdruck. Die wenigen Angaben der Opfer wurden veröffentlicht, um Zeugen zu finden. Eine Belohnung von 20000Euro ist ausgelobt für Tipps, die zum Täter führen. 1768Hinweise gingen ein, der entscheidende war bisher nicht darunter.

Vertan ist wohl die Chance, dem Kinderschänder über seinen Winter-Anorak auf die Spur zu kommen. Erst ein knappes Jahr nach der letzten Tat geriet die Jacke in den Blickpunkt. Die Sportmodefirma Kenvelo aus Prag hatte zuvor lange bestritten, dass eines ihrer Modelle der sehr genauen Beschreibung eines Opfers entsprach. Der grau-blaue Anorak ging in Sachsen nicht öfter als 63-mal über die Ladentische. Neunmal wurde mit Karte bezahlt, nur zwei Barzahler konnten ermittelt werden – 52Verkäufe sind noch offen. Die meisten Kunden haben sich wohl längst neue Anoraks gekauft.

Tatort ist noch unbekannt

Unbekannt ist auch noch immer der Ort, an dem die Kinder missbraucht wurden. Möglicherweise ein Waldstück bei Königsbrück. Das ergaben Weg-Zeit-Berechnungen der Polizei. Oft haben die Beamten die Routen zwischen Entführungsort und dem Waldgebiet abgefahren. Es wurden sogar Satelliten- und Luftbilder vom Tattag im September 2005 bei der Bundeswehr und den Raumfahrtbehörden angefordert, Heißluftballon-Fahrer wurden um Hilfe gebeten in der Hoffnung, auf den Luftaufnahmen das Fahrzeug zu entdecken. Ebenfalls Fehlanzeige.

So bleibt im Moment nur, alle Ansätze weiter abzuarbeiten und die Ergebnisse in der Soko-Datenbank auszuwerten. So soll die Lücke für den Täter immer kleiner werden.Doch Märtins dämpft die Erwartungen. „Irgendwann werden wir vielleicht auch erkennen müssen, dass wir alles Mögliche getan haben.“ Die DNA-Tests sollen aber auf jeden Fall weiterlaufen. Ein Ende ist nicht abzusehen.