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Die letzte Chance auf Familie

Immer mehr junge Eltern sind überfordert, manchmal sogar eine Gefahr für ihre eigenen Kinder. Nadine und Jasmin werden aufwendig betreut, damit sie bald ein selbstständiges Leben mit ihren Söhnen schaffen. Hoffentlich.

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© Thomas Kretschel

Von Doreen Reinhard

Es gibt Momente, in denen ihre Welt solide und sonnig aussieht. Jasmin und Nadine sitzen auf einer Bank, ihre Söhne glucksen vergnügt. Die Babys haben beste Laune, also sind auch die Mütter entspannt. Ihre Handgriffe wirken routiniert und liebevoll, der Griff zum Fläschchen, das Wiegen im Arm, das Streicheln, als einer der Jungs doch zu weinen beginnt. Diese Situation haben Nadine und Jasmin im Griff.

Für ihr Leben gilt das nicht. Noch nicht jedenfalls.

Um ihre Kinder kümmern dürfen sie sich gerade nur, weil um sie herum ein dichtes Sicherheitsnetz gespannt ist. Allein wären Nadine und Jasmin überfordert, vielleicht sogar eine Gefahr für ihre Söhne. Beide wirken mädchenhaft, Jasmin ist gerade mal 19 Jahre alt, Nadine 21. Sie haben Verantwortung für einen anderen Menschen, obwohl es schon viele Momente gab, in denen sie an der Verantwortung für sich selbst gescheitert sind.

Beide beteuern, dass nun, da sie Mütter sind, alles besser werden soll. „Mit ihm ist mein Leben viel schöner geworden“, sagt Nadine und lacht ihren Sohn Ben Luca an. „Meine Eltern sind auch stolz auf mich. Sie hätten nicht gedacht, dass ich so gut in die Mutterrolle hineinwachse.“ Jasmin klingt unsicherer, wenn sie von der Zukunft mit Jimmy spricht: „Eigentlich will ich nur, dass er es mal besser hat. Dass er nicht so einen Mist baut wie sein Vater und ich.“

Sie sind Mitbewohnerinnen, Nadine, hellblond und selbstbewusst, und Jasmin, dunkelhaarig und zurückhaltend. Ausgesucht haben sie sich das nicht. Es ist eine Zweckgemeinschaft. Vor einigen Monaten sind sie nach Dresden-Großzschachwitz gezogen, in ein großes Haus mit viel Grün drumherum. Am Klingelschild steht Mutter-Vater-Kind-Einrichtung. Betrieben wird sie von der Bürgerhilfe Sachsen, einem freien Träger, der Eltern wie Nadine und Jasmin mindestens ein Jahr betreut, manchmal auch länger, damit sie das große Ziel schaffen: ein selbstständiges Leben mit ihren Kindern.

Peter Burkhardt leitet die Einrichtung und ist mehr als ein Sozialarbeiter. Er und sechs weitere Kollegen sind das Sicherheitsnetz für acht Mütter und ihre Babys, die momentan hier leben. Stützpfeiler für alle Eventualitäten: Wenn ein Kind fiebert oder eine Nacht durchschreit, wenn eine Mutter nicht weiß, wann sie es füttern soll oder ständig vergisst, die Windeln zu wechseln. Wenn sie es wieder nicht schafft, ihr Zimmer aufzuräumen, Termine einzuhalten, ihr Geld zu verwalten, den Tag zu strukturieren.

Noch sind Betreuer da, die eingreifen können. Irgendwann aber sollen die Eltern all das allein schaffen.

Das Haus ist auch für Männer gedacht, doch fast immer sind es Frauen, die hierher vermittelt werden. Einige Väter kommen gelegentlich vorbei, viele Beziehungen zerbrechen jedoch bereits in der Schwangerschaft. Die Mütter sind jung, manche selbst noch Kinder, die derzeit jüngste Bewohnerin ist 15.

Fast immer lernt Peter Burkhardt seine Klienten über das Jugendamt kennen. „Die Kollegen treten auf den Plan, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls vermutet wird, und geben diese Fälle an uns weiter“, sagt er. Dann geht es darum, Perspektiven aufzubauen. Hilfepläne werden erstellt, Ziele formuliert, die die Mütter Schritt für Schritt erreichen sollen. Die Betreuer assistieren rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. In Burkhardts Büro steht neben dem Schreibtisch auch ein schmales Bett für die Nachtschichten. Einer muss immer im Haus sein, als Eltern-Ersatz für die Eltern – mit professioneller Distanz.

Viele Lebensläufe, die Peter Burkhardt kennenlernt, ähneln sich. Alkoholismus, Drogenmissbrauch, verwahrloste Verhältnisse sind rote Fäden, in die nicht selten Generationen eingesponnen sind. In der Branche gibt es ein heimliches Wort dafür: „Jugendamtsadel“.

Burkhardt beobachtet, dass sich Schicksale wiederholen. „Die Biografien vieler Kinder sind teilweise schon geschrieben.“ Manche werden nie eine echte Perspektive haben, weil ihre Eltern zu schwach sind, um Verantwortung zu übernehmen. „Wenn die Klienten ausziehen, habe ich bei ungefähr 50 Prozent das Gefühl, dass sie es gut hinbekommen werden. Bei der anderen Hälfte bin ich skeptisch“, sagt er. „Teilweise bekommt man dann nach Jahren die Rückmeldung, dass sie es nicht geschafft haben und die Kinder in Pflegefamilien gekommen sind.“

Die Prognosen für Jasmin und Nadine sind so unterschiedlich wie ihre Geschichten. Nadine ist die Stärkere, Jasmin ein Sorgenfall. Freundinnen sind sie nicht, aber Vertraute auf Zeit. Hinter Nadine liegt eine Drogenkarriere, mit 13 hat sie das erste Mal Crystal genommen. „Eine Zeit lang war ich von falschen Leuten umgeben, da ging es nur auf Partys.“ Vier Jahre lief das so, dann versuchte Nadine, aus dem Sumpf herauszufinden. Sie erzählt, dass sie nach zwei Entzügen langsam wieder Fuß gefasst habe. Es gab einen Job als Altenpflegerin und einen neuen Freund; eine richtige Beziehung, die bis heute hält.

Ihre Schwangerschaft bemerkte sie erst nach vier Monaten. Bei der Arbeit bekam sie Unterleibskrämpfe und ging zum Arzt. „Als ich es erfahren habe, war das eine totale Achterbahnfahrt. Alles dabei, Schock, Freude, Wut.“ Es blieb kaum Zeit, die Neuigkeit zu verarbeiten. Viel zu früh setzten die Wehen ein. Ihr Sohn Ben Luca kam in der 27. Woche zur Welt und wog nur 900 Gramm. Nadine, überrascht vom Muttersein, musste sich um ein viel zu schwaches Baby kümmern.

In ihrem Elternhaus sei für diese Sorgen kein Platz gewesen, sagt sie, also zog sie in die betreute Einrichtung. Fürs Erste in ein Zimmer, das direkt neben dem Büro der Sozialarbeiter liegt. Erst wenn sich eine stabile Bindung entwickelt, dürfen Mutter und Kind in eines der Appartements im Nachbargebäude umziehen; es ist ein Schritt in die Selbstständigkeit. Nadine wohnt schon eine Weile dort, ihr Freund besucht seine Familie regelmäßig. Die Betreuer sind zufrieden. Bei vielen Dingen müssen sie nicht mehr helfen.

Bei Jasmin ist das anders. Sie wohnt noch immer im Haupthaus, obwohl ihr Sohn Jimmy bereits zehn Monate alt ist. Ein aufgeweckter Junge, den sie liebt, trotzdem ist sie oft überfordert vom Alltag mit ihm. Vom Aufräumen, Kochen und Füttern, von Momenten, in denen der Kleine schreit. „Wenn ich ihn anschaue, denke ich: Es ist schön, ein Kind zu haben“, sagt sie. „Aber auch, dass es anstrengend ist.“ Mit dem Kindsvater ist sie noch zusammen, aber die beiden streiten sich oft. Eine verlässliche Stütze ist Kevin nicht, er hat keinen Job, dafür eine längere Gefängnis-Akte.

Vor einer Weile war er wieder einen Monat im Arrest. In dieser Zeit hat Jasmin manchmal daran gedacht, ihren Sohn abzugeben, weil sie sich dem Muttersein nicht gewachsen fühlt. Sie spricht langsam, fast müde, ihr Blick ist sanft. Sie würde gern mehr können, doch schafft es einfach nicht. Auch Jasmins Geschichte war von Anfang an vorgezeichnet.

Bei der Geburt litt sie unter Sauerstoffmangel, die Ärzte diagnostizierten eine kognitive Beeinträchtigung, heute hat Jasmin deshalb einen Behindertenausweis. Fünf Geschwister gibt es, aber eine richtige Familie waren sie nie. Weder Mutter noch Vater haben sich gekümmert. „Die eine Hälfte meiner Geschwister ist in Heimen groß geworden, die andere in Pflegefamilien“, sagt Jasmin. Es gibt keine festen Wurzeln, keine Erfolge, die Selbstbewusstsein schaffen. Auch in ihrem Leben haben stattdessen Partys und Drogen eine Rolle gespielt. Die Schule hat Jasmin während der achten Klasse verlassen, danach eine Ausbildung als Tischlerin begonnen, aber wieder abgebrochen, als sie feststellte, dass sie schwanger ist. Wie sieht die Zukunft aus? Jasmin schaut ins Leere. Pläne hat sie nicht.

Die Betreuung von Eltern wie Jasmin und Nadine gehört zu den aufwendigsten Maßnahmen, die im Sozialgesetz vorgesehen sind. Der Bedarf ist enorm. Jahr für Jahr steigt die Zahl der Familien, bei denen sich das Jugendamt einschaltet. Die aktuelle Statistik besagt, dass 2013 in ganz Deutschland über 42 000 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen worden sind. Häufigster Anlass: Überforderung der Eltern. Der Deutschlandtrend lässt sich nahtlos auf Sachsen übertragen. Im vergangenen Jahr wurden bei 2 800 Kindern Schutzmaßnahmen angeordnet. Zehn Jahre zuvor mussten die Behörden noch 800 Fälle weniger betreuen.

Auch Enrico Birkner vom Dresdner Jugendamt ist mit dieser Entwicklung konfrontiert. Gründe sieht der Abteilungsleiter der Allgemeinen Sozialen Dienste viele, auch einen positiven: „Die Behörden schauen genauer hin, inzwischen werden mehr Fälle entdeckt.“ Allerdings seien die Probleme ebenfalls gewachsen. In Großstädten wie Dresden gibt es mehr Viertel, in denen sich Milieus bilden, prekäre Verhältnisse, in denen Kinder kaum Ausstiegschancen haben. Hinzu kommt ein gravierendes Drogenproblem, Crystal zerstört immer mehr Familien. Teilweise werden Enrico Birkner und seine Kollegen bereits von Krankenhäusern informiert, wenn abhängige Frauen entbinden und nicht in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen.

Greift das Jugendamt nach einem Hinweis auf „Kindeswohlgefährdung“ ein, geht das meist schnell, aber nicht ohne Prüfung bei einer Fachteamberatung. „Wir klären, ob eine akute Gefahr für Leib und Leben besteht. Das Wohl des Kindes steht dabei vor dem Recht der Eltern“, sagt Birkner. Das Angebot an Hilfestellungen ist groß, etwa in Eltern-Kind-Häusern, die fast ausschließlich von freien Trägern betrieben werden. Wie effektiv die Unterstützung ist, lässt sich nur schwer bemessen. „Ich wäre optimistisch, wenn ich Erfolgschancen bei der Hälfte der Fälle sehe. Aber unsere oberste Prämisse ist es, Familien zu erhalten und zu unterstützen. Und irgendetwas bleibt immer hängen.“

Das hoffen die Betreuer auch für Nadine und Jasmin. Nadine bleibt noch bis zum nächsten Frühjahr in der Mutter-Kind-Einrichtung. Ben Luca, das Frühchen, hat sich zu einem gesunden Kind entwickelt. Seine Mutter schmiedet Pläne, will einen Kita-Platz und eine Wohnung finden, mit ihrem Freund zusammenziehen und irgendwann auch wieder mit der Arbeit beginnen. Es klingt nicht nach Luftschlössern, sie will endlich auf eigenen Beinen stehen.

Jasmins Zukunft sieht nebeliger aus. Noch mindestens ein Jahr wird sie im Haus bleiben, in das Sicherheitsnetz eingewoben sein. Es stört sie nicht. Ein eigenes Zuhause zu haben, kennt sie ohnehin nicht. Und vor zu viel Verantwortung schreckt sie noch zurück. „Allein mit Jimmy in einer Wohnung zu leben, das kann ich mir gerade nicht vorstellen“, sagt sie. „Er kann so lieb sein. Aber wenn er lange schreit, weiß ich manchmal nicht, was ich tun soll.“

Im Moment ist der Kleine ausgesprochen fröhlich. Er tobt herum, steuert auf die Beine seiner Mutter zu, stupst sie an und schaut grinsend zu ihr hoch. Jasmin lächelt müde zurück.