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Die Suche nach dem Sophienschatz

Es war der spektakulärste Kunstraub in der DDR. Ein mysteriöser Fall, der bis heute nicht aufgeklärt ist. Manche behaupten, die Stasi sei darin verwickelt gewesen. Aber auch das erscheint sehr fragwürdig.

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Von Adina Rickmann

An einem lukrativen Geschäft ist der Münzhändler Hubert Lanz immer interessiert. „Cash is beautiful“ sagt er gern. Geld ist reizvoll. Lanz residiert mit seinem Auktionsgeschäft am feinen Maximiliansplatz in München. Die Adresse verspricht gute Geschäfte. Auch wenn Lanz selbst behauptet, man werde vom Handel mit Münzen nicht reich: „Ich habe jedenfalls nichts zu verschenken“, sagt er, fügt aber hinzu: „Auch wenn ich sehr wohl weiß, wie ich dahin kommen könnte.“

Vielleicht ist es diese Gewissheit, die ihn im Herbst 1998 auf einer Messe in Hongkong aufhorchen lässt, als ihn zwei Kollegen aus Oslo auf ein Angebot hinweisen. „Sie haben mich gefragt, ob man Schmuckgegenstände, die wahrscheinlich aus der DDR stammen, so ohne Weiteres verkaufen könne und was es dabei zu beachten gäbe.“ Er weiß auch noch, was er geantwortet hat: „Verkauft den Schmuck doch wieder den Familien zurück, denen er einst gestohlen, geraubt oder abgenommen worden ist.“ Er habe den Norwegern Jan Olav Aamlid und Gunnar Thesen damals auch seine Hilfe angeboten. Allerdings wollte er die Sachen mit eigenen Augen sehen, bevor er aktiv wurde.

Das geschieht einige Monate später. Münzhändler Lanz nimmt die Ringe, Ketten und Anhänger in Oslo in Augenschein, in der Straße Inkognitogata 33: „Der Gedanke, dass diese Stücke einem Museum gehören könnten, ist mir nie gekommen. Es sah aus wie ein Sammelsurium aus verschiedenen Zeitepochen, ein typischer Familienbesitz eben. Nicht sonderlich wertvoll, nicht sonderlich wichtig. Museal schon gar nicht.“ Aber Lanz entdeckt sächsische Wappen auf einigen dieser 38 Schmuckstücke. Er schlussfolgert, sie könnten aus Dresden stammen. Deshalb telefoniert er mit Paul Arnold, dem damaligen Direktor des Münzkabinetts, den er von Münzauktionen kennt. „Professor Arnold meinte sofort, dass die Stücke zu dem 1977 gestohlenen Sophienschatz gehören könnten. Er war sich sogar sehr sicher.“

Daraufhin ruft Lanz im Dresdner Stadtmuseum an. Matz Griebel, den damaligen Direktor, kennt er nicht und wundert sich über dessen Reaktion: „Da sagt der doch: ,Ja, das könnte von unserem Raub sein. Können Sie mir die Unterlagen herschicken?‘ Gewiss, antwortete ich, aber nur, wenn Sie mir mitteilen, was ihnen geraubt worden ist. Dann kann ich das mit meinen Aufzeichnungen vergleichen.“ Lanz wartet vergebens. Deshalb wählt er einen Monat später ein zweites Mal die Dresdner Nummer und versteht die Welt nicht mehr. „Nein, wir schicken ihnen keine Unterlagen. Wir haben den Fall der Kriminalpolizei übergeben“, habe ihm der Direktor gesagt. „Ich war völlig baff. So viel Aufregung für solch wertloses Zeug.“

Das „wertlose Zeug“ wird am 20. September 1977 am helllichten Tag aus dem Dresdner Stadtmuseum gestohlen: 57 Stücke aus einer gemauerten dreiteiligen Vitrine im vierten Stock. Sie sind ein Prunkstück der Sammlung des Museums: wertvoller Schmuck aus der 1602 geweihten Sophienkirche, der einstigen Begräbnisstätte für Adel und reiches Dresdner Bürgertum. 1910 musste der Fußboden erneuert werden. Die Bauarbeiter fanden über 60 zusammengestürzte Grüfte aus dem 17. Jahrhundert, gefüllt mit wertvollen Ketten, Armbändern und Ringen. Als Mitte der 1960er-Jahre die durch den Bombenangriff auf Dresden nur teilweise zerstörte Sophienkirche auf Geheiß von DDR-Staatschef Walter Ulbricht verschwinden musste, fanden Arbeiter das, was die alten Grüfte ein halbes Jahrhundert vorher nicht preisgeben wollten. Noch einmal Ringe, Ketten und Knöpfe. Grabbeigaben aus Gold, Emaille und Edelstein. 68 an der Zahl.

Es ist über 46 Jahre her, doch Sieglinde Richter-Nickel, damals stellvertretende Museumsdirektorin, weiß noch genau, wie sie jedes einzelne der wertvollen Teile inventarisiert hat. Umso mehr erschrickt sie, als sie am 20. September 1977 die Nachricht von dem Diebstahl erhält: „Das Polizeikreisamt fragte mich, ob der Schmuck wirklich etwas wert sei. Ich antwortete etwas von einer Schätzung, einer halben Million.“ Sie erinnert sich noch an das abrupte Schweigen am anderen Ende der Leitung: „Es war erst mal still. Dann kam das ,Oh, da müssen wir Berlin informieren‘. Dann drehten sich die Räder.“

An der Vitrine sichert die Polizei zwölf Finger- und sieben Faserspuren. 758 Personen hat die Kripo bereits zwölf Tage nach dem Diebstahl erfasst: Besucher, Handwerker, Lehrer, Kunstsammler, Kunsthändler und sämtliche 51 Museumsmitarbeiter. „Das waren für uns unheimliche, bedrückende und auch belastende Momente“, erzählt Sieglinde Richter-Nickel. „Unsere Fingerabdrücke wurden genommen, und, und, und. Als ob wir mit den Dieben gemeinsame Sache gemacht hätten.“

Aber niemand hat etwas gesehen, was die Polizei weiterbringt. Auch der Mann an der Garderobe nicht. Er hatte vier Monitore im Blick, aber nichts beobachtet. Das war kein Zufall, wie der damalige Chefermittler Jürgen Oelsner weiß: „Nach der Tat wurde festgestellt, dass eine Kamera, die direkt auf die Vitrine gerichtet war, verdreht worden war, so dass die Vitrine nicht mehr abgebildet werden konnte.“

Sofort wird eine Sonderkommission gegründet. 150 Polizisten aus der ganzen Republik arbeiten an dem Fall, einem bis dato in der DDR einmaligen Kunstdiebstahl. Schnell werden Spuren außerhalb Dresdens verfolgt – Richtung Ostsee, nach Polen oder in die CSSR. Ohne Erfolg. Insgesamt 72 Hinweisen geht die Polizei nach, doch keiner führt zu den Dieben. Es gibt weder einen Täter noch ein Motiv für den Raub. Nur Spekulationen. Die Kriminalisten befragen und verhören 3  400 Personen.

Parallel dazu interessieren sich noch andere für den Fall: Das Ministerium für Staatssicherheit arbeitet mit hohem Aufwand an dem Vorgang „Vitrine“. Zwölf Aktenordner füllt er. Die Akribie, mit der auch die Stasi sich dem Kunstraub annimmt, ist enorm, berichtet Konrad Felber, Leiter der Unterlagen-Behörde in Dresden: „Die Staatssicherheit wollte in die Kunst- und in der Kunsthändlerszene rein, sie schickte ihre inoffiziellen Mitarbeiter ins persönliche Umfeld der Verdächtigen. So nach dem Motto, vielleicht erzählen sie es den Kumpels, im Rausch des Sieges.“ Zum Schluss hat auch die Stasi über 4 000 Personen befragt, und ist doch nicht klüger als die Kriminalisten.

Erste Spuren gibt es, als im April 1986 im Hamburger Auktionshaus Emporium ein Anhänger der königlichen Bogenschützenkette angeboten wird. Die sogenannte Klippe kehrt zwei Jahre später auf diplomatischem Weg nach Dresden zurück. Die anderen Stücke aber bleiben verschwunden, bis sie 1999 in Oslo wieder auftauchen.

Fragt man heute den Münchner Münzhändler Hubert Lanz, wo seine Geschäftspartner in Norwegen den Schmuck eigentlich herhatten, antwortet er sehr vage. Ein Freund aus Kopenhagen habe denen einst diese Schmuckstücke verkauft. „Ich stelle grundsätzlich keine Fragen.“ Der Osloer Mynthandel gelte als renommiert und habe einen anständigen Ruf. „Wie komme ich dazu, meinen Kollegen etwas zu unterstellen? Fragen Sie lieber die Stasi. Die steckt doch dahinter, die und niemand anders.“ Das Diebesgut könne doch nur über das DDR-Wirtschaftsimperium von Alexander Schalck-Golodkowski in Umlauf gekommen sein. „Alles andere ist undenkbar“, meint Hubert Lanz.

Chefermittler a. D. Jürgen Oelsner rollt mit den Augen, wenn er das hört. Er sitzt gemeinsam mit Konrad Felber im Lesesaal der Stasi-Unterlagenbehörde in Dresden. Vor ihm liegt der ganze Operative Vorgang. Akte für Akte lesen die beiden, aber der Vorgang „Vitrine“ belegt alles, nur keine Beteiligung des Schalck-Imperiums „Kommerzielle Koordinierung“. „Wir haben keinerlei Ermittlungsansätze dafür gefunden und konnten auch keiner einzigen Spur in dieser Richtung nachgehen“, betont Oelsner, der auch nach dem Ende der DDR beim Landeskriminalamt Sachsen mit dem Fall betraut war. Er gibt noch etwas zu bedenken: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Geheimdienst, Scheinakten in diesem Umfang anlegt, wenn er selbst darin verwickelt ist. Nie und nimmer.“

Außenstellenleiter Felber bestätigt das. Die Akten seien so sauber, strukturiert und breit gefächert angelegt, das hätte nur unnötige Fragen gegeben: „Die Stasi hat ja viel gemacht, aber sie hat immer dafür gesorgt, dass sie sich selbst nicht noch ein Ei legt“, meint er. Die Akten seien Unsicherheitsfaktoren. „Die Staatssicherheit wäre ja verrückt gewesen, sich so zu gefährden. Nein, es gibt keinen konkreten Hinweis darauf, dass Schalck-Golodkowski und Konsorten an diesem Kunstdiebstahl beteiligt waren.“

Der größte Teil des Diebesguts ist längst wieder in Dresden. Sieglinde Richter-Nickel und ein Dresdner Kriminalbeamter reisen am 1. September 1999 nach Oslo. Mit einem norwegischen Staatsanwalt und einem Durchsuchungsbeschluss betreten sie die Kunstgalerie und stehen vor den 38 Preziosen. Noch am selben Tag entscheidet ein Osloer Gericht, dass die Kunsthändler die Stücke herausgeben müssen. Im Handgepäck bringt die Kunsthistorikerin den wertvollen Schmuck zurück nach Dresden, wo er heute wieder zum Stolz des Stadtmuseums gehört.

Bis jetzt fehlen noch 17 Schmuckstücke aus der Beute von 1977. Das Museum hat die Suche danach nie aufgegeben und alle Stücke an die Such-Datenbank im Bundeskriminalamt gemeldet. Regelmäßig beobachten Museumsmitarbeiter das weltweite Auktionsgeschehen. Sie gehen davon aus, dass die Zeit für sie arbeitet. Die Schmuckstücke sind in der Zwischenzeit garantiert durch viele Hände gegangen. „Irgendeiner erbt immer, kann damit nichts anfangen und will das Zeug loswerden, es zu Geld machen“, sagt Hubert Lanz. Das ist der Lauf der Dinge.

Die Autorin hat zu dem Thema einen Film gemacht. „Diebstahl vor aller Augen – Der spektakulärste Kunstraub der DDR“. Er läuft am morgigen Mittwoch, 31. Juli, um 21.15 Uhr, im MDR-Fernsehen.