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Die verlorene Kindheit

Gisela Burbat wächst in Ostpreußen auf. 1945 flieht ihre Familie vor der Front. Wochen des Schreckens beginnen.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Auf dem runden Couchtisch liegen die Erinnerungen. Bedächtig sortiert Gisela Burbat die Fotografien auseinander. Sie zeigen ihren Vater in Militäruniform während des Ersten Weltkriegs, ein kleines Mädchen mit einem stolzen Trakehnerschimmel und eine fröhliche Kinderschar im Garten. Zu guter Letzt fischt die 78-Jährige eine Farbaufnahme aus dem Stapel. Es zeigt sie 1997 im ostpreußischen Horstenau. Mannshohes Gras wuchert dort, wo einst die Bautzenerin ihre Kindheit verlor.

Fritz und Adelheid Burbat mit Benno, Stefan, Hildegard, Monika und Gisela in ihrem neuen Zuhause in Bautzen. Das Foto entstand 1951.
Fritz und Adelheid Burbat mit Benno, Stefan, Hildegard, Monika und Gisela in ihrem neuen Zuhause in Bautzen. Das Foto entstand 1951. © privat

Gisela Burbat lehnt sich auf der Couch zurück. Von draußen dringt Vogelgezwitscher ins Wohnzimmer. „Unser Hof lag etwas abseits. Wir hatten es nur ein paar Schritte in den Wald. Mit der Kutsche fuhren wir in die nächste Stadt, im Winter ging es mit dem Schlitten in die Kirche. Um diese Jahreszeit blühten wunderbare langstielige Primeln in unseren Blumenbeeten“, erinnert sich die Frau mit den grauen, hochgesteckten Haaren, während sie ein Foto mit dem Hofensemble betrachtet.

Dieses schöne Zuhause liegt zwischen Insterburg und Königsberg am Rand von Hitlers Großdeutschem Reich. Heute gehört der verödete Landstrich zur russischen Enklave Kaliningrad. In der Kindheit von Gisela Burbat kennen die Horstenauer harte Arbeit genauso wie fröhliche Feste. Der Vater züchtet wertvolle Trakehner, dazu kommen Schweine, Kühe, Acker und Wald. Im Haus leben neben der Familie Dienstmädchen, Knechte, Kutscher und ein Kindermädchen.

Mittendrin in diesem Paradies wächst Gisela Burbat auf. Am liebsten verbringt sie die Zeit bei ihrem Schimmel. Ihr erstes Schuljahr beginnt im September 1944. Sie drückt nur kurz die Schulbank, dann verschwindet ihr Lehrer an die Front. Für das Mädchen beginnen sorglose Tage, aber sie dauern nur kurz. Beim Weihnachtsfest 1944 ist die Stimmung schon gedrückt. Die heutige Bautzenerin schließt die Augen. „Festtagsbraten stand auf dem Tisch am Heiligabend, viele Familienmitglieder kamen uns ein letztes Mal besuchen. Es gab nur ein Thema: die Flucht“, erinnert sich die damals Siebenjährige.

Aus der Ferne grollen schon die Panzersalven der Roten Armee. Mit Pferd und Wagen versuchen sie, der Front Richtung Westen zu entkommen. Es ist ein kalter Winter mit viel Schnee. Den Vater beurlaubt der Volkssturm, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. In der Nacht zum 19. Januar verlassen die Einwohner von Horstenau bei minus 25 Grad ihr Dorf und das alte Leben. Über die Felder wirbelt der Schnee. Noch heute friert die Seniorin beim Gedanken.

Nur auf den vereisten Landstraßen rücken die Heimatlosen langsam vorwärts. Die Hauptstraßen sind dem Militär vorbehalten „Wir Kinder verstanden nicht, warum wir alles zurücklassen mussten“, sagt Gisela Burbat. Das Ziel des Flüchtlingstrecks ist zuerst Königsberg. Über das halbzugefrorene Haff wollen sie sich Richtung Danzig durchschlagen. Ihr Onkel überlebt die schweren Strapazen nicht. Zwei Tage liegt der Tote auf dem Wagen neben dem Mädchen. An einer Kirche verabschieden sich die Burbats von ihm. Auf dem vereisten Friedhof kommt er auf den Berg Leichen. Diese Bilder verschwinden nie.

Irgendwann erreichen die Horstenauer Flüchtlinge das Haff. Mit ihrem Wagen geht es auf eine Waage, viele Gespanne sind zu schwer für das zerbrechliche Eis. Gefahr bringen auch die russischen Tiefflieger. Giselas Bruder geht ihrem Zug tastend mit dem Stock voran, um das Eis zu kontrollieren. Der Vater führt das Pferd. Plötzlich taucht ein uniformierter Deutscher auf. In Karthaus bei Danzig muss er sich zurück bei der Truppe melden. Das ist der 10. März 1945. – Zwei Tage später klopft es am Unterschlupf der Familie. Die Russen sind da. Hungrig fordern sie nach Essen. Auf einem Kanonenofen brät die Mutter Eier und verteilt Brot. Ihre Kinder liegen verängstigt auf dem Boden. Am nächsten Morgen entscheidet sich Adelheid Burbat, zurück nach Horstenau zu trekken. Wieder beginnt eine Odyssee bei Schnee, Eis und bitterer Kälte. Zu Fuß machen sie sich auf dem Weg – ohne Pferd und Wagen. Die dienen jetzt der Roten Armee. „Ich weiß nicht, wie wir das überlebt haben“, sagt Gisela Burbat. Am 8. Mai sind sie wieder zu Hause.

Dort ist nichts mehr, wie es war. In ihrem einstigen Wohnhaus sitzt die russische Kommandantur. Die Burbats ziehen in den Hühnerstall. Die Mutter wäscht für die neue Besatzungsmacht. Die kleine Gisela kommt als Kindermädchen zu einer russischen Offiziersfrau, deren Vater für das Gefangenenlager deutscher Soldaten vor Ort zuständig ist. Schnell lernt das Mädchen Russisch. Satt wird sie auch. Ansonsten ernährt sich die Familie von Beeren, Pilzen, Lebensmitteln aus den Kellern zerschossener Häuser und dem Fleisch verreckter Pferde. Es gibt keine Schule, keinen Arzt, kein geregeltes Leben. Drei Jahre dauert die Zeit der Gesetzlosigkeit.

Dann müssen auch die Burbats dem Aufruf nachkommen, dass alle Deutsche das Land zu verlassen habe. Einzig mit einem Messer, einem Soldatenbesteck, einem bereits geflickten Aluminiumtopf und den Habseligkeiten am Leib besteigen die Mutter und ihre fünf Kinder einen Viehwaggon in Insterburg. Es ist eine beängstigende Fahrt in eine ungewisse Zukunft.

Am 21. September 1948 landen sie abgemagert bis auf die Knochen und verlaust im Aufnahmelager in Görlitz. 14 Tage später erhalten die Flüchtlinge ihre Zuzugsgenehmigung nach Bautzen. „Ich bin angekommen, aber gehe nirgendwo mehr hin. Selbst auf Reisen plagt mich Heimweh“, sagt Gisela Burbat und packt die Erinnerungen zusammen. Dann geht sie in den Garten, wo langstielige Primeln und Hunderte Tulpen blühen. Ihr neues Paradies.