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Dresden am Hut

Heidi Ziehm kam mit ihrer Mutter 2005 aus dem Rheinland zur Frauenkirchen-Weihe. Ihr Foto sorgte für Kritik: Was haben die denn mit unserer Kirche zu tun?

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© Thomas Lehmann

Von Olaf Kittel

Als dieses Foto am 1. November 2005 auf der Titelseite der Sächsischen Zeitung erschien, bekam die Redaktion nicht nur freundliche Anrufe. Warum, meinten einige, musste die SZ ausgerechnet am denkwürdigen Tag der Frauenkirchweihe zwei aufgetakelte Damen aus Cochem ablichten, wo es doch so viele fleißige und bescheidene Dresdnerinnen und Dresdner viel eher verdient hätten. Konfirmation der alten Dame 1932 in der Frauenkirche hin oder her.

Die Tochter kam für den Termin mit der SZ jetzt gern wieder in die Stadt, in der sie geboren wurde.
Die Tochter kam für den Termin mit der SZ jetzt gern wieder in die Stadt, in der sie geboren wurde. © Thomas Lehmann
Mutter Herta Haupt, Jahrgang 1915, mit ihrer Tochter Heidi, die 1941 geboren wurde, bei einem Spaziergang in Dresden während der Kriegszeit.
Mutter Herta Haupt, Jahrgang 1915, mit ihrer Tochter Heidi, die 1941 geboren wurde, bei einem Spaziergang in Dresden während der Kriegszeit. © privat
Herta Probst im Alter von 12 Jahren. Sie wurde in der Frauenkirche konfirmiert.
Herta Probst im Alter von 12 Jahren. Sie wurde in der Frauenkirche konfirmiert. © privat
Heidi Ziehm (geb. Haupt) 2001 in der Unterkirche der Frauenkirche.
Heidi Ziehm (geb. Haupt) 2001 in der Unterkirche der Frauenkirche. © privat

Was verbindet also die beiden mit Dresden? Nur die uralte Erinnerung? Man sollte sie fragen. Die Kollegen der Lokalredaktion Cochem der Rhein-Zeitung halfen, ihre Spur wiederzufinden. Die Ältere, Herta Haupt, ist leider verstorben, sie war in Cochem sehr bekannt. Nicht zuletzt wegen ihres uralten Cabrios, dessen Stoffverdeck nicht mehr richtig schloss. Also fuhr sie mit Regenschirm durchs Städtchen. Amerikanische Touristen an der Mosel verpassten ihr dafür den Spitznamen „Lady Sunshine“.

Ihre Tochter Heidi Ziehm findet sich in Meerbusch bei Düsseldorf. Sie ist sofort bereit, in den Flieger nach Dresden zu steigen und ihre Familiengeschichte zu erzählen.

Zum Termin in Dresden wählte Heidi Ziehm, heute 76, wieder ein auffälliges Outfit. Sie ist braun gebrannt, bestens gelaunt und voller Energie. Über die kritischen Anrufer bei der SZ muss sie lachen. „Meine Mutter und ich waren schon ein bisschen verrückt. Aber wir lieben Hüte und haben so viele davon.“ Den großen weißen aus der Frauenkirche hat sie wiedergefunden und nun noch einmal mit an die Elbe gebracht. „Wir sind Dresdnerinnen im Herzen, glauben Sie mir.“

Heidi Ziehms Eltern, Herta und Werner Haupt, beide aus Dresden, feierten ihre Hochzeit im Luisenhof. Am 31. August 1939, einen Tag vor Kriegsbeginn. Weil der Vater den voraussah, hatte das Paar die Hochzeitsreise nach Capri bereits vor der Trauung unternommen. Anschließend zogen sie in die Villa des Bauunternehmers Paul Haupt nach Possendorf, ihrem Großvater. Hier verbrachte Heidi die ersten Lebensjahre, der Vater musste in den Krieg.

An den 13. Februar 1945 kann sie sich, damals dreieinhalb, noch genau erinnern, es ist der früheste Eindruck ihres Lebens. Ihre Mutter hatte sie und ihre ein Jahr ältere Schwester in den Keller geführt, mit einem Federbett in eine alte Wiege gesetzt und ihr ein Kinderbuch in die Hand gedrückt. Rings um sie herum hockten verängstigte Verwandte. Als die ersten Brandbomben fielen und die Einschläge näher kamen – sie sah das durch ein Kellerfenster – erschrak sie fürchterlich und schrie und schrie. Die Familie betete und sang Choräle. Diese Nacht brannte sich tief in die Kinderseele.

Das Haus in Possendorf blieb unversehrt, aber ihre Großmutter und ihre Tante starben in Dresden. Mutter Herta suchte die beiden und fand sie unter den Trümmern ihres Hauses in der Innenstadt. Sie hob die Leichen in einen Leiterwagen, zog sie hoch bis nach Possendorf, damit sie dort beerdigt werden konnten.

Herta Haupt wollte dann nur noch weg. Vorher musste sie aber ihren Mann finden, den sie in einer Kaserne am Dresdner Stadtrand vermutete. Sie nahm deshalb ihre beiden Töchter an die Hand und zog von Kaserne zu Kaserne, bis sie ihn gefunden hatte. Der Wachposten meinte: „Sie haben Glück. Ich habe heute Nacht vergessen, ihren Mann zu wecken. Er sollte in den Einsatz.“ Das Paar fiel sich in die Arme. Sie verabredeten eine gemeinsame Flucht in den nächsten Tagen.

Kurz darauf holte Werner Haupt seine Familie ab. Gemeinsam fuhren sie in einem Mercedes, der den Krieg im Familienbesitz überstanden hatte, nach Böhmen. Dort entledigte er sich seiner Uniform. So passierten sie eine Kontrollstelle der Roten Armee, Frau und Kinder unter Decken versteckt, und landeten später weiter westwärts bei den Amerikanern. Nach einem Monat Kriegsgefangenschaft konnten sie bei einer Patentante im Hunsrück unterkommen. Dort wohnte die Familie Haupt zunächst ein halbes Jahr in einem leer stehenden Kindergarten. Dann kam der Ruf für den Architekten Haupt nach Cochem. Der richtige Beruf zu dieser Zeit. Dort wohnten sie in einer Arbeitsdienstbaracke.

Die Familie baute sich dann ihre Nachkriegswelt auf, Heidi bekommt noch einen Bruder, geht zur Schule. Später, mit 16, verliebt sich die Lebenslustige in einen Wirtschaftsprüfer, heiratet ihn mit 19. „Er wollte das Kontrastprogramm.“ Sie ziehen nach Meerbusch, bekommen drei Kinder. In der Großfamilie Haupt/Ziehm geht es lustig zu, es wird viel gefeiert. „Das haben wir wohl von August dem Starken“, meint Heidi Ziehm.

Und noch etwas begleitet sie ihr Leben lang: Dresden, Dresden, Dresden. Die Eltern redeten unentwegt von der Heimat. Sie hatten sich in Cochem ein schönes Haus gebaut, die Arbeitsdienstbaracke wurde als oberstes Stockwerk in den Bau integriert. Dort wohnte die Mutter auch dann noch, als ihr Mann längst gestorben war. In der ehemaligen Baracke fanden sich all die Dinge, die sie an Dresden erinnerten: Fotos, Bilder, Bücher, Zeichnungen. Familie Haupt nannte es ihr „Heimatmuseum“.

Erst 1987 traute sich ein Familienmitglied zurück in die Heimat. Heidi Ziehm besuchte ihren Patensohn in Dresden. Er hatte sich einen Fernseher gewünscht, sie besorgte ihn im Intershop.

Ihre Eltern wagten die Reise vor der Wende nicht. Sie hatten angenommen, dass die Desertation 1945 von Werner Haupt in der DDR ein Problem sein könnte. Wenn er sich tatsächlich nur deshalb nicht hierher getraut hatte, wäre er einem historischen Irrtum aufgesessen. Die DDR hätte ihm dafür eher einen roten Teppich vor die Mercedes-Tür gerollt.

Der rege West-Ost-Verkehr von Familie Haupt begann dann erst in den 90er-Jahren. Zunächst wollte Herta Haupt ihren 55.  Hochzeitstag, ohne ihren verstorbenen Mann, unbedingt im Dresdner Luisenhof feiern. Später nahm Heidi Ziehm die Sache in die Hand und organisierte immer wieder in Dresden Feste für einen riesigen Freundeskreis und die Familie. Dabei wurde mal Geld für Frauenkirch-Steine gesammelt, mal für einen Freundschaftsbecher fürs Schloss. Heidi Ziehm kennt in Dresden inzwischen Hinz und Kunz und ist in allen möglichen Vereinen dabei.

Es gibt noch einen Grund, der sie regelmäßig nach Dresden führt: Ihr Großvater aus Possendorf hatte einst im Dresdner Stadtteil Cotta ein Haus mit mehr als 20 Wohnungen gebaut, zur eigenen Altersabsicherung. Familie Haupt Ost und Familie Haupt West bildeten nach der Wende Erbengemeinschaften, sanierten das Haus und vermieten heute die Wohnungen. In den vergangenen Jahren immer öfter an Studenten, die die kleinen, komfortablen Wohnungen schätzen. Heidi Ziehm vermietet auch, schaut sich die Interessenten sogar alle selbst an. Viermal im Jahr ist sie deshalb in Dresden. Hotelzimmer braucht sie nicht, eine der Wohnungen gehört ihr selbst.

Über die Einladung zur Eröffnung der Frauenkirche für Herta Haupt hatte sich die alte Dame damals sehr gefreut, ihre drei Kinder durften sie begleiten. Auch wenn die Reise für die Mutter gesundheitlich bereits eine ziemliche Herausforderung war. Aber für sie, die 1932 hier konfirmiert wurde, „war es eine Herzensangelegenheit“, sagt Heidi Ziehm. Als am nächsten Morgen das Zimmermädchen im Hotel zum Kaffee die Sächsische Zeitung mit den beiden Frauen auf dem Titelbild brachte, da war der anstrengende Ausflug nach Dresden endgültig vollkommen. „Die Zeile damals über dem Foto lautete: ,Hell erfreut und tief bewegt’. Genauso fühlten wir uns.“

Bereits wenige Monate danach starb Frau Haupt. Bevor sie beerdigt werden konnte, folgte das nächste Unglück: Ein Fernseher implodierte, ihr Haus geriet in Brand. Die hölzerne Arbeitsdienstbaracke, ihr Heimatmuseum, brannte völlig aus. Nichts mehr zu retten von den vielen Erinnerungsstücken. „Mutter hat alles mit in den Himmel genommen“, meint Heidi Ziehm.

Die Familie tröstete sich mit einer Geschichte, die ihre Mutter selbst immer wieder erzählt hatte: Als sie sich 1932 als 14-Jährige mit einer Gruppe Gleichaltriger in der Frauenkirche auf die Konfirmation vorbereitete, bat der damalige Pfarrer eines Tages alle, sich im Gänsemarsch aufzustellen, die Stufen hinauf und hinter den Altar zu gehen.

Dahinter verbarg sich eine Tür, die in einen rabenschwarzen Gang führte. Die Mädchen und Jungen tasteten sich vorwärts, kamen schließlich nach einiger Zeit, leicht verängstigt, zu einer anderen Tür wieder in den hellen, farbenfrohen, strahlenden Kirchenraum. So würde ihr Leben sein, hatte der Pfarrer ihnen prophezeit: „Ihr werdet durch dunkle Zeiten gehen. Aber irgendwann wird das Leben wieder schön sein.“