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Dresdner Rede: Die Sehnsucht nach Halt

Sind Museen noch Garanten für Sicherheit? Marion Ackermann untersuchte in ihrer Dresdner Rede, warum der Einbruch ins Grüne Gewölbe ein Angriff auf die Identität der Sachsen war.

Von Birgit Grimm
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Marion Ackermanns Dresdner Rede hatte viel mit Verlusten zu tun. „Kollektive Identität wird erst durch kollektive Verlusterfahrung aktiviert“, sagte sie.
Marion Ackermanns Dresdner Rede hatte viel mit Verlusten zu tun. „Kollektive Identität wird erst durch kollektive Verlusterfahrung aktiviert“, sagte sie. © Christian Juppe

Das Grüne Gewölbe, im 18. Jahrhundert eines der ersten öffentlichen Museen überhaupt, wurde sehr bald zu einer touristischen Attraktion. August der Starke beeindruckte die Welt lieber mit Kunst, als dass er versuchte, sie militärisch zu erobern. Identitätsstiftend dürfte das noch nicht gewesen sein. Er „nutzte die Kunst als ein politisches Instrumentarium, um seine Macht zu etablieren“, sagte Marion Ackermann am Beginn ihrer Dresdner Rede, der sie den knappen, lakonischen Titel „Identität“ gab. 

Es war in diesem Februar die dritte Veranstaltung der Reihe, die seit 1992 vom Staatsschauspiel Dresden und der Sächsischen Zeitung organisiert wird, und das Schauspielhaus war erneut fast voll besetzt. Kein Wunder, denn das Wort Identität schreiben die meisten Sachsen groß und ohne Gänsefüßchen. Weil sie ihre Heimat lieben, weil sie stolz darauf sind, wie sich das Land entwickelt und weil sie immer die Ersten sind, die neu eröffnete Museen oder rekonstruierte Schlösser in Augenschein nehmen.

Marion Ackermann kam vor gut drei Jahren aus Düsseldorf nach Dresden und ist seitdem Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen (SKD). Die besonders innige Liebe der Sachsen zur Kunst bekam sie bald zu spüren: Als die Dresdner sich vehement dafür einsetzten, Kunst aus der DDR wieder permanent im Albertinum sehen zu wollen. Und sie spürt diese Liebe massiv seit dem Einbruch ins Historische Grüne Gewölbe. 

Der Diebstahl der Juwelengarnituren gilt vielen als „Angriff auf die Identität aller Sachsen“ und löste eine deutschlandweite Debatte aus. „Der Einbruch wurde als Entweihung wahrgenommen von etwas, das unverfügbar sein sollte. Das intendiert, dass die sächsischen Juwelengarnituren durch eine dem Alltag ganz und gar enthobene sakrale Aufladung einen Status der Unberührbarkeit erlangt hatten und dass dessen Verletzung ein Verbrechen nicht nur am materiellen Gut, sondern an der ‚heiligen’ Identität bedeutet. Wo das Gefühl kollektiver Identität kaum noch vorhanden ist, entsteht eine tiefe Sehnsucht nach Halt, nach dem Selbstverständlichen und Unhinterfragten. Kann das Museum, Garant von Kontinuität und Sicherheit, dies heute nicht mehr bieten?“, fragte die Chefin eines der drei bedeutendsten Museumsverbände in Deutschland.

Nach einem Exkurs in die Geschichte des Grünen Gewölbes nahm die Kunsthistorikerin und Germanistin, die in Göttingen geboren wurde und in Ankara aufwuchs, ihr Publikum mit auf eine Weltreise zu kunst- und kulturhistorischen Verlusten. Denn erst, wenn etwas verschwunden ist, beginnt man es zu vemissen. Wie im Fall der „Mona Lisa“, die 1911 aus dem Pariser Louvre gestohlen und von ihrem Entführer „aus Patriotismus“ in das gemeinsame Heimatland Italien gebracht wurde. Nach ihrer Rückkehr in den Louvre „setzte die äußerst ikonische Aufladung des Bildes ein, die auch auf das Museum abstrahlte und bis heute inszeniert wird, als sei es das wichtigste Kunstwerk der Welt.“ 

Von Paris, wo Marion Ackermann auch das Feuer in Notre Dame als identitätsstiftenden Verlust anführte, ging es nach Rio de Janeiro. Dort war am 2. September 2018 im Museo Nacional das älteste wissenschaftliche Institut Südamerikas abgebrannt. „Die Tragödie von Rio stellt einen perfiden Fall einer Neukonstruktion kultureller Identität auf der Grundlage eines Verlustes dar“, sagte sie. Der neue, rechtspopulistische Ministerpräsident Bolsonaro schob zunächst alle Verantwortung auf die Museumsleitung ab. 

Dabei hätte der Staat längst in das desaströse Museum investieren müssen. Das Archiv war ungenügend katalogisiert. Insofern kam es „zu einer Umdeutung des Museums zu einem Dokument des europäischstämmigen, ‚weißen‘ Brasiliens. Das Museum hatte seine Relevanz verloren. Es wurde so etwas wie ein Untoter. Es gab keine innere Beziehung zur Gesellschaft mehr, und nur diese hätte das Museum schützen und Druck auf die Politik aufbauen können.“

"Alle sprechen von 'Empowerment'. Aber zunächst bedarf es der Ermächtigung eines jeden Einzelnen, dem eigenen Sehen und Denken zu trauen."

Frau Ackermanns Reise führte nach Litauen, wo die SKD mit einer Ausstellung über die Sächsisch-Polnisch-Litauische Union, also jene Zeit, als August der Starke und sein Sohn König von Polen und Großherzog von Litauen waren, Geschichte schrieben. Aus Südkorea berichtete Marion Ackermann über den Verlust des Neokonfuzianischen Archivs, das 1866 von französischen Soldaten nach Frankreich mitgenommen wurde und 2011 vorerst als fünfjährige Leihgabe zurückkehrte. Die Koreaner empfanden das als Demütigung.

Als außergewöhnlichen Fall der Identitätskonstruktion bezeichnete Marion Ackermann die Tatsache, dass Raffaels „Sixtinische Madonna“ aus der Dresdner Gemäldegalerie für viele Russen eine existenzielle Bedeutung hat. „Rätselhaft, aber wunderbar ist die Präsenz dieses Bildes, das in Russland nur ‚Madonna’ genannt wird im Leben von Millionen Russen, die es nie im Original gesehen haben.“ Diese Verehrung kann kaum damit erklärt werden, dass sich die Sixtina nach dem Zweiten Weltkrieg zehn Jahre lang in Moskau befand. Als sie 1955, kurz vor ihrer Rückkehr nach Dresden, im Puschkinmuseum ausgestellt wurde, standen die Menschen stundenlang an, um die „Madonna“ zu sehen. 

Heute pilgern russische Reisegruppen vor allem zum Jahresanfang in die Dresdner Gemäldegalerie, und auch heute noch hängen Reproduktionen des Gemäldes in vielen russischen Haushalten. „Ist die Sixtina auch Ihre Nummer Eins?“, fragte Marion Ackermann ihre Zuhörer und zählte eine Reihe berühmter Kunstwerke von Caspar David Friedrich über Otto Dix bis hin zum Grünen Diamanten auf, die zu den Publikumslieblingen gehören.

Beim Nachdenken darüber sei sie zu dem erschreckenden Ergebnis gekommen, dass das stärkste identitätsstiftende Moment der Dresdner die Zerstörung ihrer Stadt im Februar 1945 gewesen sei, „ihrer Stadt als Gesamtkunstwerk. Diese Form der kollektiven Identität wirkt zugleich stark exkludierend“, sagte sie und verwies auf das Kommunalwahlprogramm der AfD, die so deutlich wie keine andere Partei die Erinnerungskultur an die sinnlose Zerstörung Dresdens als identitätsstiftend beschreibt und die dauerhafte Präsenz der Kunst des sozialistischen Realismus und die Architektur der Ostmodern fordert. 

Es ist absolut keine neue Erfindung, Kunst politisch zu instrumentalisieren. „Identität als Zuspitzung auf einen Aspekt hin verstanden, hat immer etwas Einengendes. Dabei geht vieles andere Wertvolle verloren. Es werden Sinnebenen unterdrückt, die andere Deutungen zuließen. Damit wird keine Entwicklung möglich. Die Welt wird vereindeutigt“, sagte Ackermann und bekannte, dass auch zeitgenössische Kunst und Kunstmarkt zu dieser Verflachung beitragen.

Was kann man dagegen tun? „Wir müssen wieder aktiv erlernen, Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit, Offenheit, auch Unsicherheit auszuhalten. Meine tiefe Überzeugung ist, dass die Kunst, und damit meine ich die wirkliche Kunst, die große Kunst, uns den Weg dorthin lehren kann. Aber es ist anstrengend, es erfordert Arbeit, aktive Denkarbeit. Vor allem braucht es ein Vertrauen in die eigene Kraft des Denkens.“

Die Museen seien hin- und hergerissen zwischen Ethik und Ästhetik, zwischen dem Anspruch auf Gerechtigkeit und dem der absoluten Freiheit der Kunst. Marion Ackermann sieht darin etwas Positives: „Die Museen sind aufgeweckt, wach, vielleicht überwach.“ Aber der Druck der Gesellschaft sei groß. „Einerseits müssen sie in der Digitalmoderne die eigene Institution in tiefster Verbindung zu der sich rasant verändernden Gesellschaft halten, andererseits müssen sie Orte der Kontinuität und der Gewissheit, auch der Entschleunigung sein.“ 

Darin sieht sie einen Grund für die überschießenden Reaktionen der Öffentlichkeit gegen sie und ihre Mitarbeiter nach dem Einbruch ins Grüne Gewölbe: „Es löst eine tiefe Erschütterung aus, wenn in einer Welt, die wenig Halt bietet, nicht einmal die Museen, die Schatzkammern mehr als sicher gelten können.“

Der Eintritt zu den Dresdner Reden kostet 12 Euro, ermäßigt und mit SZ-Card 9 Euro, die Reden beginnen jeweils 11 Uhr im Schauspielhaus.

Nächster Termin: 1. März 2020, 11.00 Uhr; Miriam Meckel: „Sind wir noch normal? Von der Norm, die nicht konform sein wollte.“

Dresdner Reden zum Nachlesen:

Hartmut Rosa: Wie sich die Wut erklären lässt

Ulrich Wickert: Übernehmen Sie Verantwortung!