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Ein deutsches Leben

Horst Sindermann hat mit dem späteren Bundestrainer Helmut Schön in Dresden Fußball gespielt, seine Jugend im KZ verloren und als Volkskammerpräsident die DDR mitgeprägt. Zum 100. Geburtstag erscheinen seine Erinnerungen.

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© keystone

Von Sven Geisler

Die Butter schmilzt in der Hitze, er spürt, wie unter dem Drillich das Fett an seinem Körper hinabfließt. Wenn einer der Wachleute etwas bemerkt, ist er erledigt. Es ist der Sommer 1941. Horst Sindermann wird unverhofft angehalten auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Er ist unterwegs ins Lazarett, schmuggelt Lebensmittel, die er vom SS-Proviant abzweigen konnte.

Horst Sindermann (l.) mit der Knabenmannschaft des DresdensiaSV, in der er auch mit Helmut Schön spielte. Der fehlt aber auf diesem Foto.
Horst Sindermann (l.) mit der Knabenmannschaft des DresdensiaSV, in der er auch mit Helmut Schön spielte. Der fehlt aber auf diesem Foto. © Privatarchiv Michael Sindermann

Ein Sturmbannführer hatte den jungen Kommunisten mit dem kahlgeschorenen Kopf und der Nickelbrille für einen Pfarrer gehalten. Sindermann nickte. Eine Lüge in der Not. Fortan war er als Schreiber in der Kommandantur verantwortlich, den Proviant für das stationierte SS-Personal zu planen. In Mathe war er schon immer ein wenig schludrig. „Muss gewissenhafter werden im Arbeiten“, stand auf seinem Zeugnis des Dresdner Dürer-Gymnasiums von 1928: „kaum Durchschnitt“. Im KZ verrechnet er sich bewusst zugunsten der Inhaftierten. Und hat Glück. Die Fettflecke bleiben unentdeckt.

Diesen Schreckensmoment beschreibt Sindermann in seinen Erinnerungen, die – posthum zu seinem 100. Geburtstag am Sonnabend – als Buch erschienen sind. Er hatte sie aufgeschrieben zwischen 1987 und 1989, den letzten Jahren vor dem Untergang des Staates, dessen Politik er bis zuletzt als Präsident der Volkskammer mitprägte. In einer seiner letzten Amtshandlungen vereidigte er Egon Krenz als Staatsratsvorsitzenden. Er habe ihn umarmt und mit leicht zitternder Stimme gesagt: „Ich wünsche dir so sehr, dass du Erfolg hast“, schreibt Krenz in seinem Vorwort: „Wir wussten damals beide noch nicht, dass es dafür längst zu spät war.“

Am 3. Dezember 1989 wird Sindermann von den eigenen Genossen aus der SED ausgeschlossen, kommt kurzzeitig in Untersuchungshaft. „Von den einstigen Weggefährten eingekerkert zu werden, demütigte ihn mehr, als vom politischen Feind inhaftiert zu werden“, meint Krenz. Sindermanns Aufzeichnungen, die seine Söhne Michael und Thomas aufbewahrt und jetzt veröffentlicht haben, enden jedoch in den Anfängen der DDR.

Das Buch ist ein beklemmend beeindruckender Erlebnisbericht aus der Zeit des Dritten Reiches, geprägt von der Sprache des Klassenkampfes, manchmal agitatorisch schulmeisterlich, zugleich authentisch anschaulich. Sindermann erzählt zunächst von seiner Kindheit in Dresden und verrät sein erstes politisches Ziel. „Ich wollte in der Schule die Kleinschreibung einführen.“ Er liest Jack London und Upton Sinclair, bekommt von seiner Schwester Ella Freikarten fürs Theater und spielt Fußball: Mittelläufer in der Knabenmannschaft des Dresdensia SV.

Sehr unterschiedliche Kinder

Im Frühjahr 1930 findet sich im Mitteilungsblättchen des Arbeitersportvereins ein Spielbericht vom 5:0-Sieg der Dresdensia, 1. Knaben gegen Zittau. In der Aufstellung steht außer Sindermann auch der Name Schön, der „mit prächtigem Kopfball“ und „diesmal mit dem Fuß“ zwei Treffer erzielt. Der Torjäger ist Helmut Schön, später als Bundestrainer Welt- und Europameister.

Die beiden Jungen spielen zwar in einer Mannschaft, könnten aber unterschiedlicher kaum sein. Der eine liest heimlich das Aufklärungsbuch „Bub und Mädel“ von Dr. Max Hodan. „Aber ich war darin doch kein Fachmann, ich hatte mich auf die Sowjetunion und das ,Kommunistische Manifest‘ spezialisiert“, schreibt Sindermann. Der andere schwärmt für Karl May, aber als bei einer Demonstration ein Polizist an der Ecke Struve-/Prager-Straße mit einer Pistole herumfuchtelt, macht Schön das Angst.

Schöns Vater, ein Kunst- und Antiquitätenhändler, erklärt ihm, die Kommunisten wollten den anderen Leuten alles wegnehmen. Schön zweifelt, wie er in seinen Memoiren „Fußball“ berichtete: „Wir hatten auch einen ,Kommunisten‘ bei uns im Verein, der nahm niemandem etwas weg …, ein netter, lieber Junge. Alle hatten ihn gern.‘“ Er erinnert sich an eine Theateraufführung. „Da standen er und ich gemeinsam auf der Bühne. Der Junge hieß Horst Sindermann.“

Ihre Wege trennen sich bald. Der talentierte Fußballer Schön geht mit 15 zum Dresdner SC, Sindermann trainiert zwar auch im Ostragehege, allerdings Judo und später Boxen beim Roten Frontkämpferbund. Ende 1932 muss er die Schule ohne Abschlusszeugnis in der 11. Klasse verlassen, weil er eine rote Schülergruppe mitgegründet hatte. Er engagiert sich im kommunistischen Jugendverband KJVD gegen die drohende Machtergreifung der Nazis, verteilt Flugblätter und klebt Plakate.

Ertappt werden die Burschen dabei öfter, aber nie überführt. Wenn sie eine Polizeistreife entdecken, wirft sich ein pfiffiger Kumpel seinen Rucksack auf den Rücken, um sich verdächtig zu machen, und rennt los. Wird er eingeholt, öffnet er grinsend das Corpus Delicti, gefüllt mit – Knüllpapier. „Der Trick klappte immer“, berichtet Sindermann.

Trotzdem nimmt ihn die Gestapo im Juni 1933, noch nicht einmal 18 Jahre alt, in „Schutzhaft“. Im September 1934 wird er aus dem Gefängnis in Bautzen entlassen – und engagiert sich wie zuvor. „Ich war nicht gewillt, den Faschismus zu erdulden und als unpolitischer Mensch weiterzuleben.“ Im Februar 1935 holt ihn die Gestapo aus dem Bett, vom 1. Strafsenat des Volksgerichtshofes wird er zu sechs Jahren Zuchthaus und lebenslänglicher Polizei-Aufsicht verurteilt.

Königs-Ausspruch wohl von Vater Sindermann

Ein dramatisches Urteil für den jungen Mann, erschütternder sei für ihn jedoch die Begegnung mit seiner Mutter gewesen. „Vater wäre auch stolz auf dich“, sagt sie ihm unter Tränen. Karl Sindermann war von 1899 bis zu seinem Tod im Januar 1922 Vorsitzender der sächsischen SPD und einer der prägenden Politiker der Arbeiterbewegung zur Novemberrevolution, in der 1918 die Republik ausgerufen wurde.

„Na, dann macht doch eiern Dreck alleene“, soll der sächsische König August bei seiner Abdankung gesagt haben. Doch den Spruch hat ihm wohl Karl Sindermann in den Mund gelegt. Dessen Frau Johanna bezeichnete den Monarchen als „Schnapsleiche“. Der kleine Horst schlussfolgerte, dass König August unter den Säufern sein müsste, die ihren Rausch auf den Bänken im Ostragehege ausschliefen, wenn er mit seinen Freunden zum Fußballspielen ging. Doch nun beginnen seine „Wanderjahre zwischen Gitterstäben, Mauern und Stacheldraht“.

Sindermann schildert den Lageralltag. „In den Baracken stank es nach verfaulten Kohlrüben, nach eiternden Wunden, nach schweißigen Fußlappen und übergelaufenen Klosetts.“ Er klebt Tüten, stanzt Knöpfe, schneidet Pelze, und als die Wehrmacht im Dezember 1941 vor Moskau steht, gibt es im KZ Sachsenhausen Hafterleichterung. „Man konnte in einer Kantine Rote Beete und französische Zigaretten kaufen, es wurde erlaubt, Fußball zu spielen, und ein Puff eröffnet.“ Die illegale KPD-Parteileitung untersagt den Genossen, solche Angebote zu nutzen, erinnert sich Sindermann. „Wir durften der SS nicht den Triumph gönnen, uns erniedrigt zu haben.“

Die Postkarte, die er schreiben darf, schickt er an seine Mutter. „Werde gesund, meine Gute! Wir wollen uns doch wiedersehen. Grüß alle! Ich drücke und küsse dich! Dein Horst.“ Sie sehen sich nicht mehr. Sindermann wird zum Lagerleiter befohlen. Mutter ist tot. Er nimmt allen Mut zusammen, fragt, ob er zur Beisetzung darf. „Der Kerl lachte nur und fragte, ob ich Idiot das Datum des Todestages nicht gehört habe. Die Beisetzung sei lange vorbei.“

Horst Sindermann überlebt, wird am 6. Mai 1945 im Todeslager Ebensee in Österreich mit 18 000 Mitgefangenen von der US-Armee befreit. „Panzerwagen wurden geküsst und geliebkost wie Menschen, die einem ans Herz gewachsen sind.“ Über die letzten Tage in Ebensee berichtet Sindermann am 4. Mai 1946 in der Sächsischen Zeitung. Er ist nach Dresden zurückgekehrt. „Statt in Jubelstürme auszubrechen, kam mir das große Heulen.“ Die Stadt ein einziger Schutthaufen. Ohne Ausbildung sucht er eine Aufgabe. Die Genossen bestimmen ihn zum Redakteur, weil das schon sein Vater gewesen sei. Ihre Ansage: „Du hast das Talent geerbt.“

Laut Biografien war Horst Sindermann Chefredakteur der Volkszeitung, aus der die SZ hervorging, was sich jedoch nicht zweifelsfrei belegen lässt. Im Impressum standen damals keine Namen, und im Jahresbericht vom 31. Dezember 1945 werden Fritz Schälicke als erster und Willi Leitner als neuer Chefredakteur genannt. Sindermann selbst schrieb in einem Beitrag zum 35. Jahrestag der SZ 1980: „Ehe ich mich so versah, war ich neben dem Chefredakteur Schälicke Redakteur einer Zeitung, die noch gar nicht erschienen war.“

In Chemnitz und Halle arbeitet Sindermann nachweislich als Chefredakteur, bevor er in der SED zum Top-Funktionär aufsteigt. Als Agitationsleiter im Zentralkomitee prägt Sindermann den Begriff vom „antifaschistischen Schutzwall“ für die Berliner Mauer. Kurz vor seinem Tod hat er das in einem autorisierten Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel so begründet: „Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische Ordnung, die es in der DDR gab, erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch für richtig.“

1986 reist Volkskammerpräsident Sindermann in die BRD, soll den Staatsbesuch von Erich Honecker ein Jahr später vorbereiten. Die Gelegenheit will er nutzen, seinen Spielkameraden von Dresdensia wiederzusehen. Helmut Schön war mit dem DSC während des Krieges zweimal deutscher Meister geworden und spielte nach 1945 für dessen Nachfolgeverein SG Friedrichstadt. Als der bürgerliche Klub auf Geheiß der sozialistischen Machthaber aufgelöst wurde, gingen Schön und 14 weitere Spieler in den Westen, allein neun mit ihm zu Hertha BSC.

Für die Vorkommnisse, die zu der Flucht führten, hatte sich Sindermann in einem Brief an Schön entschuldigt. Davon erzählte er 1986 vor Journalisten bei einem Essen in Saarbrücken. Das erhoffte Treffen kam jedoch wegen des Gesundheitszustandes des früheren Bundestrainers nicht zustande. Schön litt unter Alzheimer.

Parteidisziplin bis zum bitteren Ende

In dem Spiegel-Gespräch von 1990 ist Sindermann gefragt worden, ob ihm Begriffe wie Schuld, Scham und Schmerz durch den Kopf gehen, wenn er an seine Zeit an der SED-Spitze zurückdenkt. „Ich habe keine Taten begangen, derer ich mich schämen müsste“, antwortete der formal drittwichtigste Mann im Staate. Es schmerze ihn, dass sein Lebenswerk zusammengebrochen ist, aber er wehre sich „ganz entschieden“ dagegen, dass man versuche, ihn durch Vorwürfe wie Amtsmissbrauch und Untreue zu einem Kriminellen zu stempeln.

Selbstkritisch räumte er jedoch ein, zwar Reformen angemahnt, aber nicht darauf gedrängt zu haben. Er werfe sich selbst vor, „bis zum bitteren Ende“ an der strikten Parteidisziplin festgehalten zu haben. Dabei stand er zu Beginn seiner SED-Karriere selbst unter Verdacht. Im Oktober 1949 war er als 35-Jähriger bereits in die Parteizentrale nach Berlin berufen worden, als ihn der Vorwurf traf, während der Verhöre im KZ Genossen verraten zu haben. In einer umfangreichen Stellungnahme, die im Buch nachzulesen ist, wehrt sich Sindermann und zählt unter anderem auf, wie viele Lebensmittel er der SS durch Buchfälschungen unterschlagen und Mithäftlingen zukommen lassen hatte – darunter 25 Kilo Butter wöchentlich.

Mitarbeit: Holger Naumann (SZ, Recherche), Jens Genschmar (Dresdner Fußball-Museum, Archivmaterial).

Horst Sindermann: Vor Tageslicht. Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Edition Ost, 224 Seiten, 17,99 Euro.