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Ein Döbelner Jahrhundert

Gerhard Neumann hat Zeitungen vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufbewahrt. Das Jahrhundert ist nur wenig älter als er selbst.

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Von Jens Hoyer

Was da vor Gerhard Neumann liegt, ist Geschichte, eingebunden zwischen zwei braunen, brüchigen Pappdeckeln. Der Döbelner Anzeiger von 1914. Die Sammlung setzt mit dem 31. Juli ein. „Der Krieg zwischen Oesterreich und Serbien“, steht in fetten Lettern auf der Titelseite. Einen reichlichen Monat zuvor war der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand in Sarajevo ermordet worden. Man vermutete den serbischen Geheimdienst hinter dem Mord. Das war der Auftakt zum Ersten Weltkrieg.

Irgendjemand hatte damals vielleicht begonnen, die Zeitungen mit den Kriegsmeldungen zu sammeln. Wer, das ist unbekannt. Die ersten Zeitungen atmen noch Normalität. Da gibt es den Fortsetzungsroman „Fliegerleutnant Bärensprung“ und die Rubrik „Himmelserscheinungen im August“. Zitat: „Die Sonne steht in diesem Monat im Vordergrund des Interesses.“

Wie Gerhard Neumann an die Zeitungsbände gekommen ist, das ist auch Geschichte. Döbelner Geschichte. Der Buchbindermeister hatte in den 50er Jahren die Schreibwarenhandlung und Buchbinderei Oswald Ball in der Johannisstraße übernommen. 1976 mussten die Häuser einem Neubau weichen. Neumann fand die gebundenen Zeitungen beim Ausräumen auf dem Dachboden. Er hob sie auf. Jetzt, da sich der Erste Weltkrieg zum 100. Mal jährt, hat sie der 93-Jährige wieder herausgekramt. Zwei Bände mit Zeitungen bis 1916. Dann bricht die Sammlung ab. Wer auch immer die Zeitungen gebunden hat – vielleicht ist er eingezogen worden, vermutet Neumann.

Ende Juli 1914 ist Deutschland noch nicht im Krieg. Aber erste Ängste scheinen durch: „Wir weisen darauf hin, dass die Einlagen in unserer Sparkasse durchaus nicht gefährdet sind“, heißt es gestelzt in einer Meldung. Das „Kleine Feuilleton“ geht der Frage nach: „Kann die Angst das Haar bleichen?“

Kriegszustand erklärt

Am 2. August beherrscht wieder eine Schlagzeile die Titelseite: „Kriegszustand erklärt“. Die Gaststätte Muldenterrasse veranstaltet noch eine öffentliche Ballmusik, Beginn nachmittags 4 Uhr. Der Turnverein Jahn verschiebt sein Sommerfest aber bis auf weiteres. 4. August 1914: Die Mobilmachung ist befohlen. Über eine ganze Seite wird der Sonderfahrplan für die Züge abgedruckt, die die Männer zu ihren Einheiten bringen. In den Wochen danach kommen Traueranzeigen mit großen schwarzen Kreuzen hinzu. Der Krieg fordert seine ersten Opfer.

Gerhard Neumann war damals noch nicht geboren. Er hat seine eigene Geschichte erlebt. Mit dem Döbelner Anzeiger ist er groß geworden. „Meine Eltern haben Zeitungen ausgetragen“, sagt er. Als Junge musste er Zeitungen in der Druckerei an der Breiten Straße abholen. „Wir mussten manchmal noch lange warten, bis die fertig waren.“ Da gab es oft was zu sehen. „Auf dem Niedermarkt gab es immer Dresche“, erzählte Neumann schmunzelnd. Wenn Nazis und Kommunisten aufeinander trafen, ging es handfest zu. Dann kam die Polizei mit dem Überfallwagen aus Riesa, erzählte Neumann. „Das war was für uns Kinder“.

Seine eigene Kriegsgeschichte hat Neumann nicht in Bücher gebunden, aber er kann sie erzählen. 1939, mit 18 Jahren wurde er eingezogen. 1950 kam er wieder. „Meine ganze Jugend war weg“, sagt er verbittert. Als Funker bei der Artillerie diente er in Holland, Belgien und Frankreich. Später in Finnland und Russland. In Litauen kam er in russische Kriegsgefangenschaft. „1948 hieß es, wie kommen nach Hause“, sagte er. Aber es ging noch mal zwei Jahre nach Böhmen in ein Uranbergwerk. Erst als die Gefangenen in den Hungerstreik traten, kamen sie nach Hause, erzählt Neumann. Von der Grenze ging es mit dem Zug nach Frankfurt an der Oder – Neumann fuhr im Viehwaggon durch seine Heimatstadt Döbeln, in die er kurze Zeit später zurückkehren durfte.

Werkstatt zerstört

„Es waren schwere Zeiten damals und ich ärgere mich darüber, wenn sich die Jugend heute beschwert, dass die Rente erhöht wird“, sagte der 93-Jährige. Als er aus dem Krieg zurückkam, ging er in seinen alten Beruf als Buchbinder bei Oswald Ball zurück. Als sein Chef in den 50er Jahren starb, übernahm Gerhard Neumann das Geschäft und stotterte es ab. Ein paar Jahre später wurde die Werkstatt in einem Hinterhof der Breiten Straße zerstört, als die Wand eines Nachbargebäudes draufkrachte. Sie war durch einen Brand instabil geworden, sagte Neumann. Eine Verwandte erlitt einen Beckenbruch.

Als das Haus mit dem Schreibwarengeschäft an der Johannisstraße abgerissen wurde, war Neumann drauf und dran, eine Buchbinderei in Ilmenau zu übernehmen. Aber die Stadt wollte den Handwerker damals halten. An Neumanns Haus in Pommlitz wurde eine Werkstatt angebaut. Erst sein Sohn Thomas Neumann musste nach der Wende das Geschäft aufgeben. Bis dahin hatten sie gut zu tun. Allein 100 bis 150 Bücher brachte jeden Monat die Deutsche Bücherei aus Leipzig, sagte Thomas Neumann. Dazu kamen andere Kunden die Gesetzesblätter, Fachzeitschriften und das einzige Comic der DDR – das Mosaik – binden ließen. „Das Mosaik war der große Renner“, sagte Thomas Neumann. Außerdem wurden Tausende Stollenkartons aus der eigenen Fertigung in der Weihnachtszeit verkauft. Damals schickten die Leute der Westverwandtschaft den begehrten Christstollen. „Manche gingen bis Amerika.“