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Eine rasch geschmierte Bemme macht’s auch

In Tschechien isst nur noch jede dritte Familie gemeinsam. Nicht alle finden das schlimm.

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© 123rf.com

Von Hans-Jörg Schmidt

Man kennt das: in morgendlicher Hektik nimmt sich jedes erwachsene Familienmitglied rasch einen Kaffee oder Tee und eine Scheibe Toast ein, fürs Frühstücksei bleibt keine Zeit, die Kinder trödeln mit ihrem Müsli rum und vergessen um ein Haar die Pausenbrote. Mittags isst jeder allein, in der Schule oder der Kita, auf Arbeit oder schnell mal an der Dönerbude. Bleibt das Abendessen als einzige gemeinsame Mahlzeit der Familie. Und da wird nicht nur gegessen, sondern auch der Tag rekapituliert, das Wochenende geplant, die nächste Anschaffung erörtert. Die Kinder lernen soziales Verhalten im Familienverbund, das vom Tischdecken bis hin zum Abräumen und dem Füllen des Geschirrspülers reicht.

Doch die Zeiten ändern sich. In unserem tschechischen Nachbarland verliert auch das gemeinsame Abendessen zunehmend an Bedeutung. Nach einer Umfrage der Stiftung „Die tschechische Familie lebt“ sitzen nur noch 38 Prozent der Familien abends gemeinsam am Tisch. Mehr noch: 29 Prozent verzichten häufig auf das Frühstück, 16 Prozent lassen das Mittagessen sausen und 19 Prozent das Abendbrot. Letzteres ist nur noch „Pflicht“ am Heiligabend oder an den Wochenenden.

Hauptgrund für diesen Trend: die Familienmitglieder kommen zu 41 Prozent zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause. Manchen ist ihr Hobby abends wichtiger, andere haben schlichtweg keinen Appetit und der Rest mag nicht das essen, wonach den anderen gerade der Sinn steht. Jugendliche und Kinder sind meist vor dem Computer in Chats mit Freunden  gefesselt und geben vor, sowieso keinen Hunger zu haben. Bestenfalls verdrücken sie nebenbei rasch ein trockenes Hörnchen, damit Mama Ruhe gibt. 26 Prozent der Tschechen schmieren sich selbst rasch nur eine Bemme.

Doch selbst dort, wo man noch dem alten Ritual des gemeinsamen Abendessens huldigt, herrscht gern das große Schweigen. In 23 Prozent der entsprechenden Haushalte läuft wie in jedem Restaurant oder jeder Kneipe nebenbei der Fernseher. Acht Prozent ist die abendliche TV-Serie sogar wichtiger als das Essen auf dem Teller. Vier Prozent halten sich an den alten Spruch: „Beim Essen spricht man nicht.“ Dort klappern höchstens Messer und Gabel. Immerhin hat eine Tradition überlebt: In 78 Prozent der Haushalte, in denen noch gemeinsames Abendessen etwas gilt, wird selbiges von der Frau zubereitet.

Glücklich sind die Analysten der Stiftung nicht über diese Ergebnisse. „Den tschechischen Familien mangelt es an Regelmäßigkeit“, beklagte der Leiter der Untersuchung, Petr Hartos, bei der Vorstellung der Studie. „Die Familien, die noch wie in früheren Zeiten gemeinsam zu Abend essen, bestätigten uns, dass sie sich gesünder und zufriedener fühlen.“ Die Soziologin Jirina Šiklová sagte, „die Ergebnisse verdeutlichen den wachsenden Individualismus innerhalb der Familien“.

Abwechslungsreich ist das Abendessen ohnehin nicht. Typisch tschechisch ist es, die Reste vom Mittagessen zu vertilgen. Da zum Mittag aber häufig fettreich gekocht wurde, schlägt sich das auch bei der abendlichen Kalorienzahl nieder. Das zweitbeliebteste Abendessen bestehe aus Pizza. Obst und Gemüse haben täglich nur 44 Prozent der Tschechen auf ihrem Speiseplan.