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Endlich ernst genommen

Das Schicksal von Helga Förster aus Hirschfelde steht beispielhaft für eine gebrochene Ost-Biografie. Sie kämpft weiter für Gerechtigkeit.

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© Robert Michael

Von Ulrich Wolf

Ein Wunder. Sagenhafte eine Milliarde Euro werden investiert in ihrer alten Heimat. Helga Förster steht auf dem Marktplatz des Zittauer Ortsteil Hirschfelde und zeigt Richtung Osten. Riesige Kräne sind dort zu sehen, ein mächtiger Kühlturm ragt in den Himmel. Ganz nah, nur ein Kilometer Luftlinie entfernt. „Leider ist das jenseits der Neiße, also in Polen“, sagt die Rentnerin. „Bei uns machen sie die Braunkohle dicht, und da drüben entsteht ein komplett neuer Kraftwerksblock.“

Für die Sächsische Zeitung hat Helga Förster ihr Reisebüro in Hirschfelde noch einmal geöffnet. Geschlossen hatte sie es bereits Ende Juni.
Für die Sächsische Zeitung hat Helga Förster ihr Reisebüro in Hirschfelde noch einmal geöffnet. Geschlossen hatte sie es bereits Ende Juni. © Repro: SZ
Vor einem Jahr erzählte sie in diesem Büro ihre Biografie – und stieß damit eine öffentliche Debatte über die Demütigungen und Verfehlungen der Nachwendezeit an, die 2017 intensiv geführt wurde.
Vor einem Jahr erzählte sie in diesem Büro ihre Biografie – und stieß damit eine öffentliche Debatte über die Demütigungen und Verfehlungen der Nachwendezeit an, die 2017 intensiv geführt wurde. © Thomas Kretschel

Die 75-Jährige stammt aus Polen, nach dem Krieg war sie als Vertriebene in Hirschfelde gestrandet. Sie wird Fotolaborantin, heiratet einen Maurer, bekommt zwei Kinder, macht eine zweite Lehre als Drogistin. Sie übernimmt einen Laden, die „Förster Drogerie“ wird in Hirschfelde zum Begriff. Nach der Wende kommt noch ein Farbenladen hinzu. Die Bank gibt Kredit, das Ehepaar Förster kauft das Haus, in dem die Drogerie untergebracht ist.

„Ich wollte unbedingt selbstständig sein, so war doch der Zeitgeist nach der Wende.“ Das sagte Helga Förster bereits vor einem Jahr. Damals schüttete sie der SZ ihr Herz aus, denn mit der Selbstständigkeit nach 1990 begann der weniger schöne Teil ihres Lebens.

Ein drei Jahre währender Abwasserbau direkt vor der Ladentür ließ den Umsatz einbrechen, der Drogeriehändler Schlecker eröffnete gleich zwei Läden im Ort. Diverse große und kleine Betriebe gingen krachen, die Jugend wanderte ab, Hirschfelde verlor dramatisch an Einwohnern.

Helge Förster engagierte sich im Gemeinderat, mühte sich um Investoren, schrieb Lokal-, Landes- und Bundespolitikern, wehrte sich gegen teure Kläranlagen und riesige Einkaufsparks auf der grünen Wiese, diskutierte auf Podien und Foren. Der damalige Finanzminister und spätere Ministerpräsident Georg Milbradt von der CDU schrieb ihr: „Leider ist die wirtschaftliche und demografische Entwicklung in Ostsachsen sehr viel schlechter verlaufen, als dies für die meisten Entscheidungsträger vorhersehbar gewesen ist. (...) Das ist aber leider nicht mehr zu ändern.“

Das will die Drogistin nicht einfach hinnehmen. Sie macht aus ihrem Laden ein Reisebüro, schuldet um, vergleicht sich mit ihren Gläubigern. Sie verklagt wegen des Abwasserbaus vor ihrer Tür die Bundesrepublik Deutschland, zieht bis vor das Oberlandesgericht, das die Baumaßnahme als „enteignungsgleichen Eingriff“ werten soll. Helga Förster verliert, die Prozesskosten sind fünfstellig, die Bank stellt den Kredit fällig.

Ihr Haus wird zwangsversteigert. Der damalige Schwiegersohn erwirbt es, so können die Försters zumindest in ihrer Wohnung bleiben. Mit 69 Jahren, im Juli 2012, aber ist es vorbei: Helga Förster geht in die Privatinsolvenz. Ihr einziges Vermögen, eine Kapitallebensversicherung, kassieren die Gläubiger. „Damals wie heute werden wir Bürger zwar gehört, aber letztendlich ist es den verantwortlichen Politikern egal, ob wir klarkommen oder nicht“, sagte sie Ende Dezember 2016.

Ein Jahr später öffnet Helga Förster noch einmal ihr Reisebüro, „extra für die SZ“. Ende Juni hatte sie es dichtgemacht. Das Haus gehört immer noch dem früheren Schwiegersohn; seit sechs Jahren schon versucht er, es zu verkaufen. Im Sommer 2018 wird ihre Privatinsolvenz beendet sein. Das Ehepaar Förster sucht eine neue Wohnung, „möglichst in Zittau“. Große Sprünge kann es nicht machen. Beide haben nicht mehr als eine jeweils dreistellige Rente.

Die Regale, in denen noch vor einem Jahr glänzende Reisekataloge lagen mit Titelbildern, die glückliche Familien an den Stränden dieser Welt zeigten, sind jetzt gähnend leer.

Helga Förster hat sich ein graues Sweatshirt mit Kapuze angezogen. Obwohl sie die Heizung noch einmal angestellt hat, ist es empfindlich kalt. Vor der Ladentür steht immer noch der angerostete rote Fahrradständer mit der Aufschrift „Förster Drogerie“, der Herrnhuter Stern an der Decke hat mächtig Staub gefangen.

Statt eines Reisekatalogs legt Helga Förster zwei Mappen auf den Tisch: eine für die CDU, die andere für die SPD. Dazu kommt ein Aktenordner voller Zeitungsartikel und Emails. „Unsere Geschichte ist jetzt im gesamten Landtag bekannt“, sagt sie ein wenig stolz, während ihr Mann mit zitternder Hand frisch gebrühten Kaffee einschenkt.

Ihre Geschichte hat sie vor allem mit Petra Köpping zusammengeführt. Mit der sächsischen Ministerin für Gleichstellung und Integration von der SPD. Mit ihr sei ein intensiver Kontakt entstanden in den zurückliegenden Monaten, erzählt Helga Förster. Die Ministerin habe ihr immer wieder persönlich Zuspruch gegeben, „das war für mich auch ein Zeichen für einen neuen Aufbruch.“

Zum Frauentag durfte sie im Landtag sprechen, „als einzige Vertreterin aus der DDR-Arbeitswelt“ und „als einzige, die als Selbstständige nach der Wende scheiterte“.

Ihre Biografie fand Gehör beim Treffen der ostdeutschen Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Bad Muskau im vergangenen April. Sie habe unendlich viel Post erhalten von Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Die frühere DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft bezeichnete in einem Leserbrief in der Zeitung Neues Deutschland das Nachwendelos von Helga Förster als „bedrückend“. „Ich habe sie dann angerufen, wir haben eine Stunde lang telefoniert“, sagt die Rentnerin. „Es war ein nettes Gespräch.“

Helga Förster traf den SPD-Bundestagsabgeordneten Thomas Jurk in Zittau im August, sie diskutierte im Dresdner Hygienemuseum im September gemeinsam mit den SPD-Spitzenpolitikern Wolfgang Tiefensee, Martin Dulig und Eva-Maria Stange. Sachsens Regierungsvize Dulig lobte sie in einem Brief als „Beispiel für Menschen, die sich auch nicht unterkriegen lassen, wenn sie persönlich mit schwierigen Lebensumständen konfrontiert sind“. Man müsse den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Sachsen stärken. „Dazu gehört, Lebensleistungen von Ostdeutschen anzuerkennen und zu verstehen, welche Ungerechtigkeiten vielen Menschen in der Nachwendezeit widerfahren sind.“

Ein „Super-Gespräch“ habe sie mit dem sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten und Rechtsanwalt Harald Baumann-Hasske geführt. „Der hat uns aufgeklärt, was in unserer Klage gegen den Bund damals alles schief gelaufen ist. Zu machen ist da jetzt nichts mehr, ist ja alles verjährt.“

Im Sommer schlug sogar der heutige Ministerpräsident Michael Kretschmer in Helga Försters damals schon geschlossenen Reisebüro auf. „Er hat fast anderthalb Stunden dort gesessen, wo Sie jetzt sitzen“, sagt Helga Förster. „Er hat von Mensch zu Mensch mit uns geredet, hat gesagt, dass das mit dem Abwasserbau so nicht hätte passieren dürfen“. Kurz vor der Bundestagswahl sei er sogar ein zweites Mal vorbeigekommen und angekündigt, er werde nach der Wahl wieder vorbeischauen. „Aber jetzt ist er ja Ministerpräsident, da weiß ich gar nicht, ob er noch Zeit hat“

Ein Termin mit Kretschmers Vorgänger Stanislaw Tillich hingegen scheiterte. Im Auftrag der Staatskanzlei habe ihr aber immerhin der Zittauer CDU-Landtagsabgeordnete Stephan Meyer geantwortet und um Nachsicht gebeten. Mehrmals telefonierte Helga Förster mit dem CDU-Landtagsfraktionschef Frank Kupfer.

Die Rentnerin erhielt aber auch Besuch von den Linken: von Fraktionschef Rico Gebhardt, der gemeinsam mit dem Hoyerswerdaer Landtagsabgeordneten Mirko Schultze vorbeischaute. „Seitdem haben wir Kontakt mit deren Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch.“ Von der AfD sie niemand da gewesen, „ich habe sie aber auch nicht angesprochen“.

Eine Stunde lang sprudelt es aus Helga Förster heraus. Jetzt hält sie inne und schaut ihren gesundheitlich angeschlagenen Mann Klaus an. „Findest du nicht“, fragt sie ihn, „uns haben doch alle zugehört?“ „Ja, das stimmt“, bestätigt Klaus, nickt, zustimmend und anerkennend gleichermaßen. „Alle waren vorbereitet, kannten unseren Fall, das war ganz anders als in den 1990er-Jahren. Anerkennung für unser Schicksal haben wir auf jeden Fall bekommen.“

Immer wieder hebt Helga Förster Petra Köpping hervor, „das ist eine Politikerin, die wirklich zuhört“. Sie habe sich echt um sie gekümmert, „einer ihrer Mitarbeiterinnen hat uns sogar ein wenig Geld in die Hand gedrückt“. Frau Köpping sei von all den Politikern, „mit denen wir in all den Jahren zu tun hatten, die beste“.

Sie, die ehemalige Bürgermeisterin von Großpösna und Landrätin des Kreises Leipzig-Land tourt seit Monaten von einem Treffen mit ehemaligen Arbeitern und Angestellten von DDR-Betrieben zum anderen. Görlitz, Döbeln, Bischofswerda, Hoyerswerda, Borna, Dresden. Das Thema lautet meist: „Hoffnungen und Verwerfungen der Nachwendezeit“. Dort sammelt die Politikerin die Stimmen jener, die sich seit der Wende nicht mehr gehört fühlen.

Aus all dem leitet Köpping einen „alarmierenden Handlungsbedarf“ ab. Ansonsten drohe die Gesellschaft in Sachsen endgültig auseinanderzureißen. Jüngste Studien zu dem Thema scheinen ihr Recht zu geben. Bei einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in den 16 Bundesländern landet Sachsen auf dem letzten Platz. In der Treuhand-Studie der Ruhruniversität Bochum heißt es, nunmehr rücke „die postsozialistische Erfahrungswelt einer krisenhaften Umbruchs- und Transformationszeit nach 1990 in den Fokus der Aufmerksamkeit“. Damit verbunden seien „einschneidende Phänomene wie die hohe Massenarbeitslosigkeit, massive Abwanderung und chronische Überalterung gerade in abgehängten ländlichen Regionen sowie eine hartnäckige Politik(er)verdrossenheit beim Wahlvolk östlich der Elbe“.

Köpping setzt sich für einen Gerechtigkeitsfonds ein. „Damit sollen diejenigen, die bei der Rentenüberleitung in der Nachwendezeit erhebliche Nachteile erlitten haben, eine finanzielle Entschädigung erhalten.“ Sie schreibt deshalb an Helga Förster: „Hier bin ich über Ihre Unterstützung sehr froh.“

Die Noch-Hirschfelderin ist davon ganz angetan. „Wenn ich mir noch was wünschen darf für den Rest des Lebens, dann eine kleine Entschädigung aus diesem Fonds“, sagt sie. „So lange werde ich weitermachen.“ Durch die Fehler in der Nachwendezeit mit ihren Demütigungen und Ungerechtigkeiten seien viele ihrer Generation in die Altersarmut gestürzt.

Helga Förster stockt, nimmt kurz ihre Brille ab, putzt sie und sagt: „Ich weiß nicht, ob die Zeit für mich und meinen Mann noch reichen wird. So schnell wird es in der Politik ja kaum Veränderungen geben.“ Sie setzt die Brille wieder auf, schaut trotzig: „Aber es ist gut, dass man jetzt wirklich besser miteinander redet.“

Und doch ist die kämpfende Rentnerin nicht frei von Furcht vor der nächsten große Enttäuschung. Wenn sie merkt: Ja, die Politiker haben alle zugehört, gute Ideen entwickelt. Aber dann passiert doch nichts.

Ob Helga Förster oder Petra Köpping: Beide Frauen werden ein Problem bekommen, wenn es irgendwann weder einen Gerechtigkeitsfonds gibt noch eine nachhaltige öffentliche Debatte. Wenn einfach alles versandet.