Frau Seidel kommt ins Fernsehen

Priestewitz. Nein, um Worte verlegen ist sie nicht. Mit ihr ein wenig durch das Dorf spazieren will der Reporter, dabei ein bisschen plaudern und all seine Fragen loswerden. Aber was durchaus charmant hervorgebracht ist, hat bei Ursula Seidel keine Chance. Nicht mehr jetzt, um kurz nach zwei. „Da kommen Sie etwas zu spät! Meine Runde drehe ich immer schon um eins“, stellt die 89-jährige Zottewitzerin lachend klar und lädt stattdessen ins gemütliche Wohnzimmer ein.
Das Team des Mitteldeutschen Rundfunks, welches momentan für den Sachsenspiegel eine Serie entlang der Bundesstraße 101 dreht, lässt sich nicht lange bitten. „Im Mittelpunkt unserer Erkundungsreise stehen Geschichten aus dem Alltag jenseits der großen Städte“, erklärt Redakteur Ulrich Liebeskind. Froh sei er, auf solche Menschen wie Ursula Seidel zu treffen. Die auf dem Land verwurzelt sind und Interessantes zu berichten wissen.
Ein Leben lang in Zottewitz
Dass die rüstige Rentnerin einiges zu erzählen hat, daran lässt sie keinen Zweifel. Ihr ganzes Leben hat die Mutter zweier Söhne und mehrfache Oma in Zottewitz verbracht. Im Haus, in dem sich Kameramann Frank Schindler und Assistent Jörg Bobe Mühe geben, alles professionell in Szene zu setzen, ist sie geboren worden.
Hier lebte sie mit ihren Eltern und Großeltern – insgesamt elf Personen – unter einem Dach. In den vier Wänden zog sie gemeinsam mit ihrem bereits verstorbenen Mann die Kinder groß und pflegte Mutter und Vater bis ins hohe Alter. „Hatten Sie niemals das Bedürfnis, hier wegzugehen“, möchte Reporter Roland Kühnke von ihr wissen. Doch, sagt Ursula Seidel. Doch, dieses Bedürfnis habe sie durchaus gehabt. Aber die Zeiten seien nun mal andere gewesen. Verpflichtet habe sie sich gegenüber den Eltern gefühlt und sei schließlich bis zum Lebensende bei ihnen geblieben.
Inzwischen verspüre sie nicht mehr den Wunsch, ihr Dorf zu verlassen. Das letzte Mal wäre sie vor drei Jahren mit dem Flugzeug nach München geflogen. Bei bester Sicht und ohne mulmiges Bauchgefühl. Aber das solle es nun auch gewesen sein.
Dass ihre Enkeltochter in Afrika lebe, könnte zwar der Anlass sein, noch einmal die Koffer zu packen. Aber damit, so lässt die einstige Buchhalterin unmissverständlich wissen, habe sie abgeschlossen. Das Alter, welches der geistig jung gebliebenen Frau weder im Gesicht noch in den strahlenden Augen steht, sei körperlich eben doch zu spüren.
Und dennoch: unterkriegen lassen wolle sie sich von der Jahreszahl nicht. Strukturiert sei der Tag und streng eingeteilt in ein morgendliches Dasein als tätige Hausfrau und am Nachmittag als beschäftigte Rentnerin. Zwei Tassen Kaffee gönne sie sich um drei, der Fernseher werde prinzipiell nicht vor 18 Uhr eingeschaltet. „Am liebsten schaue ich dann Quiz- und Ratesendungen! Der Geist bleibt nicht von allein fit, da muss man schon etwas dafür tun“, weiß Ursula Seidel.
Nicht zuletzt deshalb pflege sie ihr anderes Hobby. Schon immer habe sie gern gelesen und tue einmal im Monat das, was sie schon eine gefühlte Ewigkeit macht: Bücher ausleihen. 1986 habe sie von ihrer Vorgängerin die ehrenamtliche Tätigkeit übernommen und verrichte sie bis heute mit viel Herzblut. Dass die Zeiten auch an ihrer Gemeindebibliothek nicht vorübergegangen sind, will Ursula Seidel den Männern vom MDR dabei gar nicht verschweigen.
Natürlich werde auch in Zottewitz längst nicht mehr so viel geschmökert, wie noch vor der Wende oder Anfang der 1990er Jahre. Aber all jene Leser, die sich noch immer an den gut 700 vorhandenen Büchern verschiedener Genres erfreuen, möchte sie nicht enttäuschen. Unverzichtbar wäre diese Art des geistigen Trainings, welches sie nun schon einige Jahrzehnte fröne.
Führerschein selbst abgegeben
Immerhin wäre es ja nicht nur die Literatur an sich. Auch das Verleihen und die Registratur, an wen, welches Buch, wann ausgegeben worden ist, hielten sie fit. „Und natürlich ist es auch eine Aufgabe, jetzt, wo ich nicht mehr so mobil bin“, bekennt Ursula Seidel.
Ende 2015 habe sie selbst entschieden, nicht mehr Auto zu fahren. Das Foto ihres Flitzers, welches ihr immerhin 18 Jahre lang die Treue gehalten hat, steht als Erinnerung im Regal. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass man in meinem Alter doch nicht mehr so aufmerksam wie früher die Geschehnisse auf der Straße erfassen kann“, erklärt Ursula Seidel. Deshalb habe sie ihren Führerschein – wohl auch zur großen Beruhigung der Söhne – abgegeben. Eine vernünftige Entscheidung, die sie zuweilen aber verfluche.
Immer dann, wenn sie doch mal spontan ein paar andere Bilder sehen wollte. Immer dann, wenn sie kurzfristig mal etwas zu erledigen hätte. Und immer dann, wenn sie gern selbst durch die Großenhainer Einkaufsläden schlendern wollte. Vorbei seien schließlich die Zeiten, in denen Zottewitz noch selber Geschäfte hatte. „Das bedauere ich wirklich sehr! Wie auch in allen anderen Ortsteilen von Priestewitz fehlt da ein kleiner Laden zum Einkaufen und auch mal zum Schwatzen“, befindet Ursula Seidel.
Fernsehmann Ulrich Liebeskind befindet auch: Man habe genug Bilder von der flotten Zottewitzerin im Kasten und vor allem ausreichend wunderbare Geschichten gehört. Von einer Frau, die das Leben in ihrer Heimat liebt. Jenseits der großen Stadt.