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Gefangen von der Faszination Bergsteigen

Der Kalender „Klettern im Elbsandstein“ bietet besondere Perspektiven in Bild und Wort. Im März wird es traurig.

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Die Ästhetik der Bilder ist gepaart mit gefühlvollen Texten. Die 18. Auflage des Kletter-Kalenders mit Fotos von Mike Jäger bietet nicht nur spektakuläre Ansichten vom Bergsteigen im Elbsandstein. Auf den Rückseiten haben sich bekannte Personen aus der Kletter-Szene ihre Erlebnisse geradezu von der Seele geschrieben. Es sind erheiternde aber auch nachdenkliche Geschichten. Eine der letzteren Kategorie ist die des Monats März. Unter dem Titel „Milde Trauer“ schreibt Mike Jäger über einen Rettungseinsatz, den er als Teenager erlebt hatte. Was ihn bewegte:

Das erste Mädchen, welches Marc geküsst hatte, war eine Tote. Natürlich war es kein wirklicher Kuss gewesen, sondern eine Mund-zu-Mund-Beatmung. Aber er hatte die Lippen des Mädchens berührt, weiche volle Lippen, warme Lippen waren es anfangs noch gewesen.

Es war ein klarer, ein wenig kühler Frühlingstag. Marc hatte vergeblich versucht, die schwierige Kletterstelle am ersten Ring zu schaffen. Es gelang ihm nicht. Nach etlichen kleineren Stürzen in den Ring war nun eine Situation erreicht, wo Marcs Versuche von Mal zu Mal immer schlechter wurden. Er ruhte aus. Erschöpft am Ring sitzend, die Stirn auf seine Unterarme gelegt, kletterte er die Zugfolge in der Wand in Gedanken durch.

Ein Geräusch schreckte Marc aus seiner Meditation. Erst ein Rauschen, wie wenn sich der Wind in den Bäumen verfängt, dann ein dumpfer Aufprall am Boden, kein lautes, aber ein schreckliches Geräusch. Das leichte Rauschen in der Luft, die Bewegung eines Körpers, der vom Gipfel genau hinter Marc zu Boden fällt, alles hatte Marc nur schemenhaft wahrgenommen, wie in einem Traum. Das Geräusch des Aufpralls war wie ein böses Erwachen.

Zuerst hatten sein Kletterfreund und er versucht, die Verunglückte über den Hang nach unten zum Fahrweg zu bringen. Die junge Frau zeigte weder Puls noch Atmung. Die beiden Kletterer begannen mit Wiederbelebungsversuchen. Obwohl sie sich noch nie in einer solchen Situation befunden hatten, funktionierte die Beatmung und die Herzdruckmassage wie bei einem eingespielten Team. Ein Röcheln ab und zu, ein saugender, fürchterlicher Ton aus dem Inneren des Körpers, aber das Mädchen gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Marc und sein Freund gaben nicht auf, bis die Notärztin eintraf. Verschwitzt und vor Anstrengung rot im Gesicht kam die Ärztin den steilen Hang hochgeeilt. Sogleich untersuchte sie den leblosen Körper.

„Was ist passiert?“, fragte sie. „Das Mädchen ist vom Gipfel gestürzt, vielleicht 30 Meter“, antwortete Marc. „Ich denke, sie ist sofort tot gewesen“, stellte die Ärztin fest. „Ihr konntet ihr nicht mehr helfen.“ Sie packte ihre Utensilien wieder ein.

Den Rettungssanitätern unten am Weg winkte sie und gab ihnen zu verstehen, dass Hilfe nicht mehr notwendig sei. Aber nach einem Blickkontakt mit Marc konnte die Ärztin doch noch nicht gleich gehen. Die lebenserfahrene Frau sah den fassungslosen jungen Mann dastehen und durch ihre Menschenkenntnis wusste sie, dass sie ihn nicht einfach so mit der Toten zurücklassen konnte. „Bring sie nach unten zum Wasser“, sagte die Ärztin und legte tröstend ihre Hand auf Marcs Schulter.

Am Bach betrachtete Marc das Mädchen. Es gab kein Blut, aber ihre Haut hatte kleine Kratzer. Er glättete ihr Antlitz mit Wasser und wusch ihre Hände. Die Angehörigen sollten sie schön in Empfang nehmen können, hatte die Ärztin ihm aufgetragen, bevor die Starre des Todes ihre Gesichtszüge entstellen würde.

Das Mädchen war schön. Trotz der Leblosigkeit schien ihr Gesicht, wie von einem Glanz umgeben. Ihr blondes Haar hatte einen goldenen Schimmer. Eine Strähne ihres wirren Haares fiel über die Stirn. Sanft berührte Marc die Lippen, strich mit dem Ballen seiner Hand darüber, gleichzeitig berührten die Spitzen seiner Finger ihre Wangen, die zarte Haut unter den Augen. Ein Hoffen noch, sie möge ihre lang bewimperten Lieder wieder öffnen.

Nachdem Marc ihre Augen geschlossen hatte, weinte er. Einsam ging er am Bach entlang. Obwohl er das Mädchen nicht gekannt hatte, fühlte er sich unwahrscheinlich traurig. Und ob er wollte oder nicht, Marc musste immer wieder an ihren Mund denken.

Am nächsten Tag kehrte er wieder zu den Felsen zurück. Der Frühling zeigte sich in seiner ganzen Pracht. Der Bach murmelte unverständlich, Pflanzen bewegten sich leise, die Luft im Tal war frisch. Oben thronte der monumentale Felsen.

Der Wald wirkte traumhaft, war neu und fremdartig, so fremd wie das Mädchen. Die erwachende Natur mit ihren frischen, satten Farben stand im krassen Gegensatz zu den trostlosen Bildern, die Marc in seinem Kopf hatte: unendlich weite, verwelkende Sonnenblumenfelder in milchig dunstigem Licht.

Betrübt berührte Marc den Stein, stieg empor, und fand Halt. Nach und nach wurde ihm die Schönheit solch trauriger, solch erhabener Ansicht vom Sterben bewusst, erkannte er, dass Blüte und Verfall, Werden und Vergehen, Geburt und Tod, zusammengehören, alles Leben ist. Marc versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Was könnte ihm besser helfen als das Klettern? Während der Begehung von schwierigen, ausgesetzten Kletterrouten spürte er, wie schön das Leben ist, ein intensiv gelebtes, facettenreiches Leben mit Freude und Trauer, Glück und Leid.

Auch in seiner weiteren Zeit sollten „seine“ Felsen, das Klettern dort, das tiefe Empfinden in der Natur, noch oftmals eine wahrlich therapeutische Wirkung für ihn haben. Dabei waren seine Unternehmungen zwar kühn, aber nie selbstmörderisch. Seine eindrücklich wahrgenommene eigene Gefühlswelt sagte ihm, was er zu tun oder zu lassen hatte. Hin und wieder geschah es wohl auch, dass er sein Glück in Anspruch nahm. Beim Soloklettern fühlte sich Marc so lebendig wie nie sonst, das Dasein auszukosten, aber auch den Tod zu akzeptieren.

Ob sich ohne die Gedanken an die Lippen des Mädchens sein Leben anders gestaltet hätte?

Notiert von Gunnar Klehm.

Der Kalender „Klettern im Elbsandstein 2014“ ist erhältlich in Bergsportläden, in ausgewählten Buchhandlungen oder unter www.feldenwelt.de; Preis: 10 Euro