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Gefiederte Vielfalt zwischen Grabsteinen

Der Tolkewitzer Urnenhain dient mindestens 40 Vogelarten als Quartier. Sie sind stets gut beobachtet.

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© Sven Ellger

Von Kay Haufe

Ein Grabstein ist nicht einfach ein Grabstein. Für Vögel ist er der ideale Platz zum Sonnen, Singen und Orientieren. Waldemar Gleinich beobachtet auf den Steinen des Tolkewitzer Urnenhains neben Amseln, Blau- und Kohlmeisen oft auch die Heckenbraunelle. Mehrmals pro Woche kommt der Ornithologe auf den Friedhof, um Vögel zu zählen und ihr Verhalten zu studieren. Und das seit mehr als zwei Jahrzehnten. „Die Arten sind in den letzten Jahren vielfältiger geworden. So ist beispielsweise der Eichelhäher dazugekommen, der früher sehr selten war. Heute baut er seine Nester in den hohen Kiefern des Friedhofes und versteckt Eicheln und Nüsse als Vorrat am Boden“, sagt Gleinich.

Seltene, aber regelmäßige Gäste auf dem Tolkewitzer Urnenhain: Der Grünspecht
Seltene, aber regelmäßige Gäste auf dem Tolkewitzer Urnenhain: Der Grünspecht © picture alliance / dpa
die Waldohreule
die Waldohreule
der Zilpzalp
der Zilpzalp
und der Turmfalke
und der Turmfalke © dpa

Der Vogelkundler erklärt den Friedhof aus Sicht der Tiere. „Sie finden hier eine Strukturvielfalt, die es in der Natur auf so engem Raum nicht gibt. Neben hohen Bäumen und mittelgroßen Büschen und Hecken bieten Gräber und ihre Bepflanzung Nistmöglichkeiten, die kein Park oder Wald hergeben“, sagt Gleinich. An den permanenten Besuch von Menschen gewöhnten sich die Vögel relativ schnell. „Sie merken, dass von den Gästen keine Gefahr ausgeht. Die Besucher bewegen sich zwischen den Gräbern sehr behutsam. Es gibt keine Autos oder Räder zu beachten. Und selbst, wenn beim Reinigen eines Grabes ein Nest gefunden wird, reagieren die Besucher meist rücksichtsvoll und zerstören die Brutstätte nicht“, sagt Waldemar Gleinich. Gleiches gelte für die Mitarbeiter des städtischen Friedhofes. Diese seien sehr interessiert an den Hinweisen zu Brutstätten, die Gleinich und seine Mitstreiter vom Bund für Umwelt und Naturschutz geben.

Auf dem Weg zum Krematorium erkennt Waldemar Gleinich den Grünspecht an seinem charakteristischen Ruf „Glückglückglück“. Zwar brüte das markant grüne Tier mit rotem Kopf nebenan auf dem Johannisfriedhof und komme nur zur Nahrungssuche in den Urnenhain. Gleiches gilt für die Waldohreule. „Doch wir Vogelschützer betrachten beide Friedhöfe als untrennbare Einheit, wie die Vögel eben auch“, sagt Gleinich.

In den vielen Stunden, die er mit dem Fernglas ausgerüstet zwischen Grabmalen verbracht hat, konnte er auch den seltenen Eisvogel beobachten, der an einer kleinen Wasserstelle nach Futter suchte. Gern erinnert sich Gleinich auch an einen Graureiher, der von der Pillnitzer Elbinsel, wo seit Jahren regelmäßig mehrere Paare brüten, zum Wasserbecken vor dem Krematorium kam. „Er hat zielgerichtet die Goldfische gefressen, ist dann noch einige Male um das Becken stolziert und wieder abgeflogen“, sagt der Ornithologe und lacht.

Ständig beobachtet er das Leben und Sterben junger Vögel. Denn viele Gelege von Singvögeln dienen Raubvögeln wie Krähen, dem Eichelhäher, Elstern oder auch dem Turmfalken als Nahrungsquelle für ihren Nachwuchs. „Amseln brüten in der Regel dreimal pro Jahr, und nur das dritte Gelege überlebt“, sagt Gleinich. Doch für den Vogelkundler ist das ein normaler natürlicher Vorgang.

Stolz zeigt er auf zwei Öffnungen im zur Elbe gelegenen Teil des Krematoriums. Es sind Nisthilfen für das Turmfalkenpärchen, das jährlich hier brütet. Da es keine Konkurrenz in unmittelbarer Nähe zulässt, kann es sich jährlich zwischen einer von beiden entscheiden. Doch die Vogelkundler beobachten nicht allein auf dem Urnenhain. Sie beringen Jungvögel, indem sie diese aus dem Nest nehmen und dazu die Elternvögel mit Netzen einfangen. Außerdem werden Nistkästen aufgehängt, um wegfallende Baumhöhlen zu ersetzen. Für Gleinich haben Vögel zudem eine positive Bedeutung für die Trauernden. „Sie symbolisieren das Leben.“