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„Gefühle am Berg stumpfen nie ab“

Lutz Protze stand vor 60 Jahren auf seinem ersten Gipfel. Jetzt wundert sich der 71-Jährige über böse Bilder von den Himalaja-Riesen.

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Von Jochen Mayer

In den Schrammsteinen fing alles an. Ein Elfjähriger war stolz auf seinen ersten richtigen Gipfel, den Vorderen Torstein. Das ist 60 Jahre her. Als Lutz Protze sein erstes Bergabenteuer erlebte, da standen Edmund Hillary und Tenzing Norgay wenige Tage vor der Erstbesteigung des Mount Everest. Ein Zufall oder mehr? Im SZ-Interview spricht der Alpinist und Bergfilmer über Sehnsucht nach frischer Luft, warum er nach dem Fluchtversuch und einem Jahr im Knast doch nicht in den Westen ging und was ihn nun am Everest abschreckt.

Der war 1996 mit großen Hoffnungen zum zweiten Mal Richtung Mount Everest aufgebrochen.
Der war 1996 mit großen Hoffnungen zum zweiten Mal Richtung Mount Everest aufgebrochen.

Die Kletterwelt war für DDR-Bergsteiger sehr klein. Doch es gab ein Nationalteam – ohne Förderung, weil Bergsteiger keine Olympiamedaillen gewannen. Lutz Protze lotete mit seinen Berggefährten die Spielräume aus:

„Nach vielen Gipfeln im Elbsandstein folgten Berge in der Tatra, in Rumänien, Bulgarien, im Kaukasus, Pamir. Mit Unternehmungsgeist konnte man es sogar bis auf die 7.495 Meter des Pik Kommunismus schaffen. Der wechselte nun wieder seinen Namen, hieß schon Pik Stalin und jetzt Pik Ismoil Somoni. Achttausender waren für uns damals unerreichbar.“

Und doch fanden die besten DDR-Bergsteiger wilde Berge, leisteten dort Herausragendes. Lutz Protze reiste zehnmal ins Pamir.

„Das war eine harte Schule. Der Anmarsch ins Basislager durch wilde Täler, Flüsse, zerrissene Gletscher und Geröll forderte genauso viel Kraft – manchmal sogar noch mehr – wie die eigentlichen Gipfelbesteigungen. Wir mussten auch Verpflegung für vier bis fünf Wochen mitschleppen. Träger waren kein Thema. Aber wir hatten dort unvergessliche Erlebnisse. Nie wieder war ich so mit der Natur und den Bergen verbunden. Nie wieder war mir unsere eigene Winzigkeit so bewusst wie im Pamir.“

Wilde Natur hat ihren Preis. Die Ostdeutschen kamen oft an ihr Limit, mussten auch Unfälle verkraften und oft improvisieren.

„1988 wollten wir zu dritt den Pik Lenin im Pamir besteigen. Der Anmarsch führte durch ein menschenleeres chaotisches Tal. Mehrfach mussten wir die Flussseite wechseln, wären fast ertrunken. Und doch mussten wir aufgeben. Der Weg zurück war verbaut. Uns blieb nur: Vorwärts ins Ungewisse zur chinesischen Grenze. Da sollte es eine Straße geben. Als Orientierung hatte ich die Spur eines Schneeleoparden entdeckt. Die führte uns aus den Bergen. Sicher hatte der Leopard das erste Schaf gerissen, das zu holen war. Uns rettete ein Lkw. Bei ernsthaften Kontrollen hätte es Ärger gegeben. Wir besaßen keine richtigen Papiere. Die Grenzer waren froh, wenn sie uns wieder los waren. Offiziell konntest du mit den Russen nichts machen. Sie hätten Riesenärger bekommen wegen Kontakten zu uns.“

Die Bürokratie im Osten wirkte oft unüberwindlich. Und doch gab es auch mal fingierte Einladungen, in Dresden kühn geschrieben auf kyrillischer Schreibmaschine.

„Ab und zu ging ein Ventil auf, da gab es ein Visum. Manchmal nur bis Moskau. Dann musste man tricksen, um weiterzukommen. In der Taiga hielt es ein Dorfsheriff für unmöglich, dass einer ohne echte Genehmigung bis zu ihm vordringen konnte. Das waren immer aufregende Touren.“

Es gab den Vorstoß, zu DDR-Zeiten auf Achttausender zu klettern. Was Polen und sowjetische Alpinisten durften – warum sollte das nicht für DDR-Bergsteiger möglich sein?

„Wir kamen bis zu Sportchef Ewald mit dieser Frage. Er versuchte zu erklären, warum er nicht alle Wünsche erfüllen kann. Wenn er uns die Tür aufgemacht hätte, dann wären Wasser- und Basketballer gekommen, Hockeyspieler und Moderne Fünfkämpfer, Tennisspieler und Faustballer. Die litten ja alle so wie wir Bergsteiger. Ewalds Argumente konnte ich fast verstehen. Aber das half uns nicht weiter. Wir wollten ja trotzdem zu den Achttausendern. Dabei zieht es heutige Extremkletterer schon gar nicht mehr dorthin.“

Als junger Mann suchte Lutz Protze die Weite – über alle Grenzen hinweg. Sein Fluchtversuch scheiterte an der Schwarzmeergrenze. Ein Jahr Knast folgte, ein verlorenes Jahr.

„Es war ein blauäugiger Versuch, als Fremder, groß gewachsen an der unbekannten Küste in Bulgarien. Als wir abhauen wollten, war ich gerade 20, überblickte die Folgen gar nicht. Ich hätte nach dem Jahr im Knast sicher in den Westen gekonnt. Aber mich hielten meine Freunde, der Elbsandstein, das Vertraute hier. Albträume plagten mich, dass ich im Westen sei und nicht zurück kann. Und umgekehrt. Das lastete seelisch extrem auf mir. Wenn ich in den Bergen sein konnte, war alles andere zu ertragen, auch die DDR. Ohne die Berge hätte ich es hier nicht ausgehalten.“

Nach dem Mauerfall startet Lutz Protze mehrere Versuche an den Achttausendern. Da geht er schon auf die 50 zu.

„Die Wende war ein Glück für mich. Gleich im Sommer 1990 konnte ich zum K2, dem schwierigsten Achttausender. Wir durften aber nur bis auf 7.500 Meter und hatten den Berg sauber zu machen, Müll sammeln in der Höhe. Ich sah darin eine Riesenchance. Man konnte sich ja vielleicht allmählich hochdienen. 1992 ging es richtig los zum Everest, der Höhensturm blies uns vor dem Gipfelversuch runter. 1994 dann der Cho Oyu 8.201 Meter – mein Achttausender.“

Im Bergsteigen sieht Lutz Protze sein Lebenselixier, den Lebensinhalt, eine Berufung. Er machte daraus gleich mehrere Jobs: Kameramann, Reiseleiter, Autor, Vortragsredner.

„Ich lernte Schlosser, konnte mir aber nie vorstellen, bis zur Rente an der Werkbank zu stehen. Ich hatte immer den Drang nach Freiheit, nach Luft, nach Neuem. Ein perfekt geregeltes bürgerliches Leben schien mir unmöglich für mich zu sein. Das liegt wohl in den Genen. Wenn ich an der Küste groß geworden wäre, hätte mich das Segeln gereizt. Etwas Abenteuerliches sollte es in meinem Leben sein. Berge boten das im Überfluss.“

Und besonders im Elbsandstein vor der Haustür. Bad Schandau bot schon in der Kindheit die Nähe zum Fels. Nach Jahren in Dresden baute er mit seiner Frau Kathrin ein altes Försterhaus in Lichtenhain aus.

„Ich muss manchmal aufpassen, dass ich nicht sentimental und melancholisch werde, wenn ich an die Felsen vor dem Haus denke. Sandstein lässt sich streicheln. Der fühlt sich gut an, macht angenehme Gefühle. Man greift gern danach. Deshalb ging ja Bernd Arnold so lange barfuß klettern. Man kann den Fels auf der Haut spüren. Da werden harte Kerle ganz weich. Die sind ja sowieso nicht so cool, wie es aussieht. Wenn man zu elft losfährt und kommt nach einer halben Weltreise nur zu acht wieder nach Hause – das ist extrem hart. Das erschüttert im Innersten. Das trägt man ein Leben lang in sich.“

Reden möchte er darüber jetzt nicht. Er kennt die Reize und Gefahren des Kletterns. Und wie Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz zur Kulturfrage wird. Lutz Protze fühlt sich der Tradition verpflichtet.

„Im Moment wirkt für mich der Kampf zwischen Moderne und Tradition recht ausgewogen. Die jungen Leute haben doch viele Zugeständnisse bekommen. Sie können an Stellen klettern, an die wir früher nie gedacht haben. Die Wegdichte ist viel größer geworden. Und wer unbedingt eine 1.000-Meter-Wand hoch will, der kann das an vielen Stellen in der Welt machen. Uns blieb früher die Große-Zinne-Nordwand verwehrt. Das war immer unser Ärger, dass wir nicht rauskonnten.“

Aber auch die neuen Zeiten haben ihre Tücken, Auswüchse, negative Entwicklungen.

„Als ich das erste Mal 1992 mit Hans Kammerlander am Everest war, da gingen drei Expeditionen den Berg an. 30 Ausländer plus Einheimische. Inzwischen sind es pro Saison – gut zwei Monate lang – etwa 1.000. 1996 versuchte ich mit Ralf Djumovits vom Süden den Everest. Da gab es auch nur drei Expeditionen. Ganz am Anfang gestatteten die Nepalesen jeweils nur einer Nation den Everestzugang. Jetzt sah ich böse Bilder: Hunderte Ärsche vor einem beim Aufstieg. Das kann keinen Spaß machen. Gefährlich ist es dazu. Da sind nicht nur Bergsteiger unterwegs. Unverantwortlich, wo einen der kleinste Fehler umbringen kann.“

Andererseits: Es müssen Hunderte Bergsteiger-Laien sein, die durch Lutz Protze nun ahnen, was in der Höhe passiert. Er gab als Reiseleiter Einblicke in eine besondere Welt.

„Man will ja das, wofür man brennt, auch weitergeben. Ich war immer davon überzeugt, dass es was ganz Tolles ist, was ich da treibe. Dieses gute Gefühl wollte ich teilen, auch anderen zukommen lassen. Reiseleiter in den Bergen ist ideal. Da lässt sich wie nebenbei die Sehnsucht nach Ferne, Weite, Reisen bedienen – auch für mich. Wenn ich jemanden auf den Kilimandscharo führen kann, dann öffnet sich für den eine neue Welt. 19 Mal war ich dort oben, das 20. Mal soll nicht sein. Auf diesem Gipfel habe ich erlebt, wie viele von Emotionen übermannt wurden. Das riss mich jedes Mal mit. Gefühle am Berg stumpfen nie ab.“

Und Lutz Protze gibt sein Lebensgefühl auch mit Filmen, bei Vorträgen und über viele Jahre auf SZ-Bergsportseiten weiter.

„Es sind oft kleine Ratschläge, die einem das Leben erleichtern. Mir halfen die Tipps der Alten und wie ich von ihnen an den Fels geführt wurde. Auch heute kann sich die Jugendarbeit beim Sächsischen Bergsteigerbund sehen lassen. Natürlich war ich auch leichtsinnig. Mitunter fehlte Material. Aber mir war immer bewusst, was passiert, wenn ich in kritischen Momenten weitermache. Runterfliegen wollte ich nie. Dann gab es die Wahl: Konzentrieren oder zugeben, dass es nicht weitergeht. Der Ruf nach dem Seil ist peinlich, kostet eine Kiste Bier. Aber ohne diese Einstellung wird man nicht alt beim Bergsteigen. Mir halfen diese Erfahrungen beim Höhenbergsteigen.“

Seine Grenzen kennt Lutz Protze. Oft genug lotete er sie aus mit Kraft und Ausdauer.

„Wer die Gefahren kennt, der geht bewusster damit um. Oft wird aber unterschätzt, was man leisten kann, welche Reserven in einem schlummern. Das spürten jetzt zur Flut viele. Man kann über sich hinauswachsen. Oft wird das in unserer Wohlfühlgesellschaft im Alltag nicht abgefragt. Das ist schade, vielleicht sogar ein Verlust an Lebensqualität. Man könnte sich dabei völlig neue Welten erschließen. Die körperlichen Voraussetzungen haben wir – oft ist es aber nicht nötig, sich im Leben durchzubeißen.“

Sein 60-jähriges Kletterjubiläum beging Lutz Protze ohne jedes Brimborium.

„Mit zunehmendem Alter werden die Möglichkeiten kleiner, manches ist mühsam. Aber eine Jubiläumstour mit Kletterkameraden und Freunden zum Vorderen Torstein habe ich fest eingeplant.“