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Gesundheit im Wandel

Das Klinikum Görlitz feiert 110. Geburtstag. 1905 wurde es als Stadtkrankenhaus in Betrieb genommen.

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Von Ralph Schermann

Ulrike Holtzsch versucht, regelmäßig in allen Einrichtungen des Görlitzer Klinikums vorbeizuschauen. Das ist für die Geschäftsführerin nicht einfach, gilt es doch, möglichst keine der 23 Kliniken, Institute und medizinischen Zentren des Hauses zu vergessen. Das Görlitzer Klinikum hat rund 1 300 Mitarbeiter, 645 Betten, ist Akademisches Lehrkrankenhaus der TU Dresden, unterzieht sich regelmäßig externen Qualitätsprüfungen und behandelt jährlich rund 22 000 stationäre und 50 000 ambulante Patienten. Nur der gesamte Görlitzer Stadtrat war schon seit 110 Jahren nicht mehr da.

Seit 2012 leitet Ulrike Holtzsch als Geschäftsführerin das Städtische Klinikum Görlitz. Foto: Pawel Sosnowski
Seit 2012 leitet Ulrike Holtzsch als Geschäftsführerin das Städtische Klinikum Görlitz. Foto: Pawel Sosnowski

Am 24. Februar 1905 war er es. Geschlossen spazierte der komplette Stadtrat zur Girbigsdorfer Straße, um das neue städtische Krankenhaus in Augenschein zu nehmen. Oberbürgermeister Paul Büchtemann lobte das neue Haus in höchsten Tönen. „Es strahlt Wärme aus“, hieß es zum Beispiel, was der „Neue Görlitzer Anzeiger“ ziemlich einfach erklären konnte: „Es werden 80 Zentner Kohlen je Tag verbraucht.“

Den Krankenkomplex hatte man lange ersehnt. Das alte Stadtkrankenhaus an der Berliner Straße war dem Bedarf nicht gewachsen, den Görlitz vor hundert Jahren mit einer Bevölkerungsexplosion nahm. Die kleinen Privatkliniken überall in der Stadt konnten dem nichts entgegensetzen, zumal diese sich auch kaum den sozial Schwachen zuwandten. Kein Wunder, dass jeder Baufortschritt am Krankenhaus gewürdigt und die Eröffnung kaum erwartet wurde. Am 1. März 1905 war es soweit.

Der neue Bau konnte sich sehen lassen. Die Backsteinausführung war in eine Parklandschaft eingebettet, was beim ersten Eindruck auf eine Wohnsiedlung schließen ließ. Aus heutiger Sicht muss man freilich darauf hinweisen, dass dies damals weit vor den Toren der Stadt lag und somit weite Wege für Kranke, Besucher und Personal nicht ausblieben. Erst die im Dezember 1907 bis zum Krankenhaus erweiterte Straßenbahn sorgte für eine bequeme Verbindung und sogar noch für mehr: Auf einem eigenen Anschlussgleis erhielt das Krankenhaus Güterlieferungen.

Erste Bestrebungen für einen Neubau hatte es bereits 1893 gegeben. 1899 setzte sich der Magistrat mit dem Zwei-Millionen-Vorhaben an der Girbigsdorfer Straße durch. Als Baumeister bestellte man Heino Schmieden (1835 bis 1913), der als größter deutscher Krankenhausarchitekt galt. Unter Medizinern war er beliebt, weil er eine Synthese von Architektur und Natur suchte. Schaut man genau hin, präsentierte sich auch das Görlitzer Krankenhaus in einem gewissen Pavillonstil. Ein System von Wegen verbindet die zunächst sieben einzelnen Bauten untereinander und trennt sie zugleich. So gibt es neben den chirurgischen und medizinischen Gebäuden jene für Isolierstationen und Pathologie, Verwaltung und Lager. Bei so viel Bebauung mutet es heute eigenwillig an, dass der gesamte Komplex anfangs ehrenamtlich geleitet wurde. Der erste Chef, Dr. Heinrich Ernst Boeters (1850 bis 1932), hatte nur wenig Personal, und auch die technische Ausstattung erfolgte erst in den Folgejahren. Dafür gab es von Anfang an eine Unterteilung in Erste- und Zweite-Klasse-Patienten, insgesamt kletterte die Kapazität bis 1914 auf 324 Betten, 1928 waren es 446. Erster hauptamtlicher von der Stadt eingesetzter Krankenhaus-Chef war ab 1920 Dr. Oswald Hagedorn (1880 bis 1953).

Zwei Weltkriege sorgten für mancherlei Veränderungen, während die Einrichtung die größten Umwälzungen in der DDR erlebte. Das staatliche Gesundheitswesen erweiterte drastisch die ambulante Versorgung mit einem angegliederten Poliklinik-System, beginnend in einer Zeit, da die Görlitzer die 100 000-Einwohner-Grenze überschritten. Im nunmehr als Bezirkskrankenhaus über die Kreisgrenzen hinaus bekanntwerdenden Komplex wurden nahezu alle Fachabteilungen eingerichtet, und wieder wurde der Platz knapp. Ohne Außenkliniken ging es nicht mehr: II. Medizinische Klinik, Augenklinik, HNO-Klinik, psychiatrische und neurologische Kliniken. Mit Arno Linke wurde ein Görlitzer Krankenhaus-Arzt persönlicher Leibdoktor von Walter Ulbricht, mit Wolfgang Böhmer ein Görlitzer Frauenarzt später zum Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts.

Am Görlitzer Krankenhaus indes hatte ein anderer Name einen guten Klang über Jahrzehnte: Der Chirurg Professor Heinz Funke (1911 bis 1993) hat wesentlichen Anteil am Wachsen des Gesundheitskomplexes, dem er von 1955 bis 1980 vorstand. Sein Weitblick in den Entscheidungen war enorm, sein Einsatz für alle möglichen neuen Mittel legendär. Doch wo dieser „Verdiente Arzt des Volkes“ und Görlitzer Ehrenbürger (1987) noch die Zeit für die Jagd und eine künstlerisch sehr anspruchsvolle Fotografie hernahm, ist allen seinen Zeitgenossen noch immer ein Rätsel.

Nach der politischen Wende 1989/90 fand sich das Krankenhaus als kommunal betriebene Stätte wieder. Es wurde eine gGmbH gegründet, und bereits 1994 wurden umgerechnet sieben Millionen Euro für erste Umbauten ausgegeben. Unter marktwirtschaftlicher Betrachtung erwiesen sich Außenkliniken zwar weiterhin als gefällig, betriebswirtschaftlich indes unsinnig. Mit einem zentralen Neubau wurde die Dezentralisierung 2004 Geschichte. Die Geschichte des Klinikums indes geht weiter. „Unsere Ziele sind klar definiert, Veränderungen aber weiterhin wichtig – mit Augenmaß und Unterstützung der Belegschaft“, sagt Ulrike Holtzsch.

Übrigens: Als die Stadträte dem Krankenhaus 1905 einen Besuch abstatteten, wurde der Antrag abgelehnt, die Ehefrauen mitbringen zu dürfen. „Die Besichtigung trägt amtlichen Charakter“, hieß es. Schade, denn der offizielle Rundgang damals begann im Wirtschaftstrakt mit Kochvorführungen und Waschproben . . .