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Goebbels’ letzter Schrei

Hitlers Propagandaminister hielt im März 1945 seine letzte öffentliche Rede – in der Görlitzer Stadthalle.

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© bpk/Bayerische Staatsbibliothek/Heinrich Hoffmann

Von Frank Seibel

Als Leinwand-Schönheit gefällt sich Görlitz. Vier Oscars gab es jetzt erst wieder, vor einigen Jahren schon mal einen für Weltstar Kate Winslett, die hier zu großer Form auflief. International berühmt wurde Görlitz aber schon durch eine Inszenierung, die in diesen Wochen 70 Jahre alt wird. Zwischen Schauer und Stolz schwanken die Erzählungen, die mit einem der spektakulärsten Medienereignisse der Neißestadt im 20. Jahrhundert verbunden sind: Goebbels in der Stadthalle! Am 8. März 1945 besuchte der Reichspropagandaminister die Neißestadt für eine Großkundgebung in unmittelbarer Nähe zur Front. Es war ein spontaner Besuch, denn in dieser Phase des Krieges war es überraschend, dass die Wehrmacht am 6. März die zwanzig Kilometer östlich gelegene Kleinstadt Lauban (heute: Luban) zurückerobern konnte. Es sollte die letzte erfolgreiche Offensive der Deutschen Wehrmacht bleiben – und es sollte der letzte öffentliche Auftritt von Joseph Goebbels bleiben. Sieben Wochen später brachten Goebbels und seine Frau Magda erst ihre sechs Kinder, dann sich selbst mit Gift um. Zwei Monate später kapitulierte das „Tausendjährige Reich“ bedingungslos.

Dass sich der Krieg in seiner letzten Phase befand, leugneten auch die Flugblätter nicht, die noch im März und im April 1945 Siegesparolen verbreiteten und die entscheidenden Schlachten ankündigten. Dass die Deutschen der Roten Armee nach harten und verlustreichen Kämpfen die Stadt Lauban wieder abnehmen konnten, gab den NS-Führern die Chance, noch einmal verbal auf Sieg zu setzen. Letzte große Stunden für den Propagandaminister.

Joseph Goebbels „dachte in Bildern“, sagt der Görlitzer Ratsarchivar Siegfried Hoche. Auf der Suche nach einer geeigneten Kulisse in unmittelbarer Nähe zur Front habe der Propagandaminister in der Stadthalle am Neißeufer eine passende Bühne gefunden. 1910 für die großen Chor- und Orchesterkonzerte der Schlesischen Musikfeste errichtet, bot sie damals bis zu 2 000 Menschen Platz, stehend. Der größte Saal zwischen Dresden und Breslau, damals wie heute. Ideal für ein Großereignis vor den Kameras der „Deutschen Wochenschau“, dem Propagandamagazin, das regelmäßig im Vorprogramm der noch verbliebenen Lichtspielhäuser lief.

Goebbels reiste am 6. März zunächst von Berlin aus nach Lauban, wo er die Wehrmachtssoldaten beglückwünschte. Unter ihnen einen 16-jährigen Jungen, den er auf dem Marktplatz für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz ehrte. Die Wochenschau vom 16. März zeigte diese Szene wie auch die Kundgebung in Görlitz – im Kontrast zu dramatischen Kampfszenen und entsetzlichen Bildern von zivilen deutschen Opfern. Soldaten der Roten Armee hatten nach der Eroberung Laubans auch ein Kloster überfallen, die Nonnen vergewaltigt und getötet, sagt der Görlitzer Ratsarchivar Siegfried Hoche. „Diese Bilder waren ein wesentlicher Bestandteil der Propaganda. Die Botschaft lautete: Wenn ihr zurückweicht, geht es euren Frauen und Kindern so wie auf diesen Bildern.“

Bei seinem Auftritt in der Stadthalle wird dieses Muster zum Motiv für einen rhetorischen Höhepunkt in Goebbels Rede. Wie man es aus der weltberühmten Durchhalterede im Berliner Volkspalast kennt, steigert sich der Propagandist in eine Mischung aus Hysterie und Aggression hinein und brüllt in den Saal: „Die Soldaten werden bei den kommenden Offensiven keinen Pardon mehr kennen und keinen Pardon mehr geben. Die Divisionen werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst. Und wenn sie dann ihre Gewehre schultern und ihre Panzer besteigen, dann haben sie nur ihre erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen vor Augen, und ein Schrei der Rache wird aus ihren Kehlen emporsteigen.“

Der Görlitzer Historiker Ernst Kretzschmar, Jahrgang 1933, war damals nicht in Görlitz und wäre auch zu jung gewesen, um an der Kundgebung teilzunehmen. „Es konnten nur verwundete Soldaten, Volkssturmkämpfer und Frauen und Männer teilnehmen, die in Rüstungsbetrieben arbeiteten.“ In Görlitz gab es etliche Betriebe, die Zubehör und Munition für Kriegswaffen lieferten: Die Waggon- und Maschinenbau AG (Wumag), die Maschinenbaubetriebe Roscher und Raupach, und „Hugo Meyer Optik“, wo unter anderem Zielfernrohre hergestellt wurden. Von einer überfüllten Stadthalle schreibt Goebbels anschließend in seinem Tagebuch. Wie viele Menschen es waren, weiß auch Kretzschmar nicht. Oft hat er sich die Wochenschau vom 16. März 1945 angeschaut, die heute auf YouTube zu finden ist. Der Historiker hat die Gesichter der Menschen studiert. „In den ersten Reihen sieht man hundertprozentige Nazis, die deutlich sichtbar ihre Parteiabzeichen tragen und die dem Redner zujubeln. Einige Reihen dahinter sind aber Skepsis und Zweifel zu erkennen. Das konnte selbst die Wochenschau nicht ausblenden.“

Abgesehen vom Überraschungserfolg der Wehrmacht in Lauban gab es im Winter 1944/45 auch in Görlitz kaum noch Grund zu großem Optimismus. Vor Weihnachten 1944 ist ein wesentlicher Teil des Alltagslebens zusammengebrochen: Die Schulen wurden geschlossen. Seit Januar füllte sich mit zunehmendem Vorrücken der Roten Armee in Richtung Westen die Neißestadt mit Flüchtlingen. Tausende Menschen kamen in jener Zeit mit dem Zug am Bahnhof an. Die Görlitzerin Elfriede Terp war damals 13 Jahre alt. Noch heute erinnert sie sich intensiv an diese Wochen. Mit ihren Schulkameradinnen war sie eingeteilt, die Flüchtlinge am Bahnhof zu betreuen. Dicht an dicht standen alte Menschen sowie junge Frauen mit kleinen Kindern im Durchgang unter den Gleisen, der die Südstadt mit der Görlitzer Innenstadt verbindet.

Im Februar rückte der Krieg immer weiter auf die bis dahin weitgehend verschonte Stadt zu. „Mein Vater hat mich manchmal auf das Artilleriefeuer aufmerksam gemacht“, erzählt Elfriede Terp. Die Angst wuchs. Es ging das Gerücht um, dass auch Görlitz zur Festung erklärt werden und bis aufs Letzte verteidigt werden sollte. Was das bedeutete, zeigten in den letzten Monaten die Kämpfe um Breslau, Lauban –  aber auch Bautzen, das schwer zerstört wurde.

Als die Ostfront bis auf etwa 20 Kilometer an die Neiße herangerückt war, wurde Görlitz evakuiert. Etwa 60 000 Menschen verließen die Stadt, viele in Richtung Bayern. Elfriede Terp ist mit ihrer Familie in Richtung Thüringen geflüchtet. In Gotha sollten sie unterkommen, aber die Stadt war schon voll. Letztlich fanden sie bei einer Bekannten in Erfurt Zuflucht. Nur der Vater blieb als Volkssturmkämpfer in der Stadt. Ob er Goebbels in der Stadthalle erlebt hat? „Er hat zumindest nie darüber gesprochen“, sagt Elfriede Terp. Während der Krieg auch für die Görlitzer zunehmend Leid brachte, gab Goebbels den Frauen und Männern in der Stadthalle noch einmal einen Funken Hoffnung. In sein Tagebuch notierte er: „Ich finde hier ein Publikum, das für meine Darlegungen völlig aufgeschlossen ist. Meine Rede ist ganz auf Kampf und Durchhalten eingestellt.“ Die letzte verbliebene Zeitung, die „Oberlausitzer Tagespost“, zitierte Goebbels am 10. März in ihrer Schlagzeile: „Schlagt die Bolschewisten, wo ihr sie trefft!“ Und in der Unterzeile: „Niemals wird die Stunde kommen, daß wir kapitulieren!“ Dieses „niemals“ währte keine zwei Monate mehr.