Görlitzer Industriedenkmal vernichtet

Von Luise Mosig und Sebastian Beutler
Mit dem Großbrand in der Reichenbacher Straße ist ein Stück Görlitzer Stadtgeschichte vernichtet worden, das eng mit der Industrialisierung in der Stadt verbunden war. Der Ingenieur und Unternehmer Wilhelm Roscher zog 1899 mit seiner Ziegeleimaschinenfabrik von der Dresdner in die Reichenbacher Straße und läutete so eine traditionsreiche Zeitspanne ein. Roscher entwickelte Ziegelpressen, die großes Aufsehen erregten. Denn Görlitz war Ende des 19. Jahrhunderts eine aufblühende Stadt, deren ständig wachsende Bevölkerung ein Dach über dem Kopf benötigte. Der Standort Reichenbacher Straße ließ Roschers Unternehmen schnell wachsen; die angrenzenden Bahnschienen und die bereits vor Roschers Übernahme bestehende Ziegelei stellten perfekte Ausgangsbedingungen dar. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde im Jahr 1904 eine GmbH gegründet. 1914 übernahmen die Familien Hollaender und Lehmann das Maschinenunternehmen. Die alte Ziegelei wurde 1917 abgebrochen, und an ihre Stelle trat eine der modernsten Anlagen Deutschlands, schrieb der Görlitzer Historiker und Architekt Andreas Bednarek in einem SZ-Beitrag vor fast genau 20 Jahren. Aus einem besonderen Anlass: Für 3,5 Millionen Mark wurde das alte Gemäuer damals saniert.
Die DDR-Zeit hatte das Gebäude mehr schlecht als recht überstanden, die Firma Roscher aber überhaupt nicht. Max Hollaender bemühte sich zwar, mit einem Fuhrbetrieb den Standort zu erhalten. Doch nach Recherchen Bednareks folgte in den 1950er Jahren die Enteignung und in den Jahren 1956 bis 1958 zog in die Hauptwerkhalle ein Autoreparaturwerk ein. Pkw und Lastkraftwagen wurden hier nun repariert. Noch 1995, so erinnerte sich der Kunsthistoriker, erlebte man eine finstere, muffige Halle mit ölverschmiertem Fußboden und verbauten Galerien.
Nach dem politischen Umbruch bemühte sich Familie Hollaender bei der Treuhand um eine Rückgabe ihres enteigneten Besitzes – mit Erfolg. Über verschiedene Stationen landete Grund und Boden der alten Fabrik in einer Immobilien-Vermietungs-Gesellschaft. Sie sanierte schließlich das seinerzeit fast 100 Jahre alte Gebäude, in dem das Skoda-Autohaus Kohli sich einmietete – bis Juni 2008. In dieser Zeit war das Autohaus auch beliebter Ort für Bälle oder Ausstellungen. Sogar eine Ballettaufführung mit Musik von Dvorak, aber auch der Gruppe Kraftwerk und David Byrne fand statt.
Dem Autohaus folgte die Auto Glas Görlitz GmbH, die Ende 2009 in das frühere Autohaus einzog und einen 10-Jahres-Mietvertrag unterschrieb. Das Unternehmen ist spezialisiert auf den Einbau von Scheiben in Fahrzeuge aller Art. Andreas Kentsch und sein Bruder Thomas führen das Unternehmen, das ihnen auch jeweils zur Hälfte gehört und in der Branche einen sehr guten Namen hat.
Doch das Gewerbe-Areal bot Platz für viel mehr Firmen. Im Laufe der Zeit hatte hier die Brandschutztechnik GmbH ihren Platz, aber auch Autopflege- und Autolackierereien, der Auto-Teile-Handel und die Robak Wälzlager Vertrieb GmbH. Selbst die Diskothek „Skyroom“ lud einige Jahre hier zur Party ein, ehe sie an die Bahnhofstraße wechselte. Je mehr Firmen auf dem Gelände zu finden waren, umso lebhafter blieb auch der Name Roscher im Gedächtnis der Görlitzer. Zugleich aber pflegten die Unternehmen auch ein gutes Miteinander, die Mischung stimmte. Im Grunde war das Konzept von vor 20 Jahren jetzt voll aufgegangen. Doch dann kam der Montagmittag. Und seitdem ist an der Reichenbacher Straße nichts mehr, wie es war.
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