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Grenzerfahrungen mit Dynamo

Alfons Saupe führte den Klub durch die Turbulenzen der Wendezeit. In die Bundesliga durfte er jedoch nicht mit. Jetzt bricht der Ex-Präsident sein Schweigen.

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© kairospress

Von Sven Geisler

Alfons Saupe wagt sich anfangs nicht aus der Deckung, er hält sich an die bekannten Fakten, tastet sich langsam vor. Der 71-Jährige hat bisher geschwiegen, während andere die Geschichten kommentierten, die er miterlebt hat. Seine Zeit als Präsident bei Dynamo Dresden ist die turbulenteste in der Geschichte des Vereins, der heute seinen 60. Geburtstag begeht: die Wendezeit. Als Saupe im Mai 1986 sein Amt antrat, war er Vorsitzender. Wie wichtig die exakte Funktionsbezeichnung sein sollte, musste er wenig später erfahren.

Ein erfolgreiches Duo Ende der 1980er-Jahre bei Dynamo: Trainer Eduard Geyer und Präsident Alfons Saupe (r.). Archivfoto: privat
Ein erfolgreiches Duo Ende der 1980er-Jahre bei Dynamo: Trainer Eduard Geyer und Präsident Alfons Saupe (r.). Archivfoto: privat

Es ist seine erste Reise in den Westen. Es geht nach Bochum, wo Dynamo in einem internationalen Fußballvergleich – Freundschaftsspiele durfte es im Klassenkampf nicht geben – auf den VfL Bochum trifft. Matthias Sammer erzielt den Treffer zum 1:0-Sieg für die Schwarz-Gelben, aber das Ergebnis ist beinahe Nebensache. Ein Großhändler für Elektrogeräte hat die Mannschaft eingeladen und bietet die neueste Technik zu erschwinglichen Preisen an. Die jungen Männer aus dem Tal der Ahnungslosen nutzen die einmalige Gelegenheit zur Schnäppchenjagd.

Das Problem: Wie kommt die brisante Fracht über die Grenze? „Wir sind deshalb schon nachts losgefahren. Trainer Eduard Geyer war das sowieso recht, da konnte er für den nächsten Tag eine Übungseinheit ansetzen“, erinnert sich Saupe. Am Grenzübergang stehen die Lkw Schlange. „ Unser Manager Bernd Kießling meinte, da stellen wir uns nicht an, und forderte den Fahrer auf, ein geschlossenes Tor anzusteuern.“

Ruckzuck springen Grenzposten herbei, stoppen den Bus, wollen ihn vorschriftsgetreu kontrollieren. Kießling habe den Genossen Major trocken gefragt, ob er tatsächlich die schlafenden Spieler stören wolle. Die Gardinen hatten sie vorsorglich zugezogen. Für ein Trikot, einen Wimpel und eine Anstecknadel lässt der Staatsdiener die Dynamo-Kicker passieren. „Für die Nacht- und Nebelaktion musste ich in Berlin strammstehen“ , erinnert sich Saupe.

Die Genossen in der Zentrale hatten aus der Westpresse erfahren, was in Bochum gelaufen war. Die Zeitungen berichteten nicht nur von der Großzügigkeit des Händlers, sondern auch, dass Dynamo-Präsident Saupe die Bochumer nach Dresden eingeladen habe. „Du bist nicht Präsident, du bist Vorsitzender!“, staucht ihn der Vorgesetzte am Telefon zusammen: „Das darfst du gar nicht!“ Saupe war bei einer Pressekonferenz gefragt worden, ob ein Rückspiel möglich sei. Und hatte zugesagt. „Ich habe mir keine Rübe gemacht“, sagt er.

Saupe streicht das Parteilehrjahr für die Spieler. „Die hatten doch längst ihre eigene Weltsicht. Den Jungs brauche ich nichts von der Überlegenheit des Sozialismus zu erzählen, sagte ich zu Lothar Stammnitz. “ Bei dem Dresdner Parteifunktionär stößt er überraschend auf offene Ohren. „Er stimmte zu: Na gut, nimm sie aber zusammen und erkläre ihnen, wie sie besser Fußball spielen können.“ Das liegt ganz in Saupes Interesse, schließlich hatte er schon in seinem ersten Interview für das DDR-Fernsehen verkündet: „Wir wollen endlich mal wieder Meister werden.“ Was für ein Affront! In den 1980er-Jahren hatte Stasi-Chef Erich Mielke den Titel für seinen Lieblingsklub, den Berliner FC Dynamo, reserviert. Doch in der Saison 1988/89 können selbst zweifelhafte Schiedsrichter-Entscheidungen die Dresdner nicht mehr stoppen.

Plötzlich gerät alles in Bewegung. Hunderttausende demonstrieren, ein Land löst sich auf. Und Dynamo laufen die besten Spieler weg: Ulf Kirsten zu Bayer Leverkusen, Matthias Sammer zum VfB Stuttgart sowie Hans-Uwe Pilz, Andreas Trautmann und Matthias Döschner zu Fortuna Köln. „Die Jungs konntest du nicht halten, die sahen ihre Chance im Profi-Fußball“, erzählt Saupe, der nach dem Fall der Mauer nur ein Ziel kannte: München, FC Bayern.

„Sie sollten uns erklären, wie Profi-Fußball geht. Wir hatten doch keine Ahnung, wie das läuft.“ Uli Hoeneß lädt die Dresdner Führungsriege zum Abendessen ein, steckt den Gästen einen Mustervertrag für Fußball-Profis zu. „Einen solchen haben dann alle unsere Spieler unterschrieben, aber natürlich hatten wir das Ost-Gehalt eingesetzt“, erzählt Saupe schmunzelnd.

Hoeneß taxiert das Duo Kirsten/Sammer auf sieben Millionen Mark. Aber Jupp Heynckes, damals wie heute Bayern-Trainer, will die Ostfußballer nicht. Es würde zu lange dauern, sie ans Westniveau heranzuführen. Irren ist menschlich. Matthias Sammer will sowieso nach Stuttgart. Ulf Kirsten lässt sich von Leverkusens Manager Reiner Calmund für den Wechsel begeistern.

„Ulf hätten wir auch an Inter Mailand verkaufen können. Die Italiener saßen bei mir im Büro, sie haben eine ganze Stange mehr geboten“, sagt Saupe. Leverkusen dagegen drückt Dynamos Vorschlag von vier auf 3,5 Millionen D-Mark. „Wir hatten ein super Verhältnis zu den Spielern. Wenn wir sie schon gehen lassen mussten, dann sollten sie sich in ihrem neuen Verein wenigstens wohlfühlen.“ Kirsten will auf keinen Fall nach Mailand, obwohl schon ein Lear-Jet für eine Besichtigungstour bereitsteht. Das Problem: Kirsten fliegt ungern. Und ein Wechsel ins Ausland erscheint dem 24-Jährigen zu viel an Veränderung.

Später muss sich Saupe den Vorwurf gefallen lassen, eine zu geringe Ablöse für den Torjäger erzielt zu haben. „Das lässt sich mit dem Blick von heute leicht sagen“, kontert er, „aber damals gab es nur drei, höchstens vier Vereine in der Bundesliga, die eine solche Summe zahlen konnten. Kirsten und Sammer gehörten zu den teuersten Transfers ihrer Zeit.“ Für Sammer überweist Stuttgart 2,1 Millionen Mark.

Als der VfB für den Nationalspieler zwei Jahre später zwölf Millionen von Inter Mailand kassiert, gehen die Dresdner leer aus. Das Versäumnis wird dem Präsidium unter Saupe angelastet. „Wir wussten doch nicht, dass es so etwas wie eine Weiterverkaufsklausel geben könnte. Woher auch?“, so der einstige Verhandlungsführer. „Keiner von denen, die hinterher schlaumeierisch über uns urteilten, hatte uns vorher darauf hingewiesen.“ Mit VfB-Boss Gerhard Mayer-Vorfelder ist Saupe zwar per Du, seit sie vor dem Europacupspiel 1989 auf dem Elbdampfer voreilig vereint deutsche Volkslieder gesungen haben. Aber so weit ging die neue sächsisch-schwäbische Freundschaft nicht, dass ihn der gewiefte West-Politiker in Vertragsdetails eingeweiht hätte.

Saupe aber sieht den Auftrag erfüllt, den er sich im Herbst 1989 gestellt hat: Dynamo durch die Turbulenzen in die Bundesliga zu führen. Dazu muss er vor allem jene Spieler bei Laune halten, die keine Angebote aus dem Westen bekommen. Zufällig lernt er Dieter Burmester kennen. Der Autohändler aus Schleswig-Holstein sucht ein Gelände, um schon vor der Währungsunion Gebrauchtwagen in Dresden zu verkaufen – gegen Schuldscheine. Saupe bietet ihm den Parkplatz am Dynamo-Stadion an. Auf einmal kurven Trabis durch die Stadt mit der Aufschrift: „Bald fahre ich einen Audi von Dieter Burmester.“

Die Dynamo-Spieler dürfen sich ihre Nobelkarossen im April 1990 selbst in Rellingen abholen. Wieder ist es der umtriebige Manager Kießling, der den Coup vorbereitet. In Dresden besorgt er für die 23 Audi Nummernschilder mit DDR-Kennzeichen. „Die wurden drüben gleich drangeschraubt“, erzählt Saupe. Und wieder machen sie eine echte Grenzerfahrung.

Die Mauer ist zwar schon offen, aber der Kontrollposten noch da. „Das Gesicht des Grenzers werde ich nie vergessen. Sind das etwa neue Autos?, fragte der entgeistert. Und ich antwortete brüskiert: Na klar, denkst du, wir lassen uns alte Möhren andrehen?“ Saupe muss immer noch lachen, wenn er die Episode erzählt. Als die Kolonne in Dresden einfährt, bleiben die Passanten staunend stehen. „Westgeld gab es noch nicht, aber wir konnten jedem Spieler ein Westauto geben“, meint Saupe.

Der Luxus ist jedoch nur geliehen, die Praxis des Leasings haben die Dresdner nicht durchschaut. Auch für den Mannschaftsbus musste Dynamo blechen, wobei Saupe überzeugt ist, dass er die Summe zumindest hätte drücken können. Schließlich hatte er den Kontakt geknüpft – über Bundeskanzler Helmut Kohl. Der sitzt im März 1990 zum Benefizspiel für den Wiederaufbau des Dresdner Schlosses neben ihm. „Ich sagte: Herr Bundeskanzler, wenn wir in die Bundesliga kommen, können wir aber nicht mit einem alten Ikarus-Bus durchs Land fahren.“ Kohl winkt ein Vorstandsmitglied von Daimler-Benz zu sich. „Ein paar Tage später erhielt ich den Anruf, ich solle mir in Frankfurt am Main einen Bus aussuchen“, erinnert sich Saupe. In die Bundesliga darf er Dynamo nicht mehr begleiten. Im September 1990 wird er vor die Tür gesetzt, fühlt sich rausintrigiert.

Die Zurückhaltung im Gespräch hat Saupe längst abgelegt. Er erzählt offen, wie er die Zeit erlebt hat, in der „jeden Tag ein Tsunami über den Verein gefegt“ sei. „Es war die intensivste, aufreibendste Zeit meines Lebens, ich möchte sie nicht missen“, sagt der Rentner. Der Kontakt zu Dynamo ist zwar abgerissen, die innere Verbundenheit aber geblieben. „Natürlich drücke ich die Daumen, dass sie in der zweiten Liga bleiben.“ Die letzten Titel aber feierte die SGD unter Präsident Alfons Saupe: Meister und Pokalsieger 1990. Lange ist’s her.