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Henry, der Schuhretter

Viele putzten ihre Treter nicht mal für den Nikolaus. Sind die Schuhe ramponiert, muss Meister Bayer aus Pirna helfen.

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© Norbert Millauer

Von Jörg Stock

Pirna. Ein heißes Eisen, sagt der Meister, indem er den Schaden besieht: Wo der Schaft auf die Sohle trifft, ist das Leder durchgerissen. Er könnte einen Flicken auf das Loch setzen und alles neu einzwicken. Kostenpunkt 25 Euro. Das lohnt nicht. Wirtschaftlicher Totalschaden. Ist es das Ende? Noch nicht. Denn es gibt Atomkleber. Diesen einmal an die Finger gekriegt, reißt eher die Haut als die Klebestelle. Damit sollte auch das kaputte Leder wieder an der Sohle halten. Zumindest für eine Saison. Der Meister legt die Stiefel zu den anderen Pflegefällen. „Das ewige Leben haben sie nicht mehr.“

Gut besohlt

Sind die Schuhe noch zu retten?
Sind die Schuhe noch zu retten?
Meistens schon, sagt Henry Bayer (55). In seiner Pirnaer Werkstatt repariert der Schuhmachermeister dieser Tage im Akkord beschädigte Treter.
Meistens schon, sagt Henry Bayer (55). In seiner Pirnaer Werkstatt repariert der Schuhmachermeister dieser Tage im Akkord beschädigte Treter.
Oft sind zerbröselnde Kunststoffsohlen das Problem oder abgewetzte Absätze.
Oft sind zerbröselnde Kunststoffsohlen das Problem oder abgewetzte Absätze.
Der Meister schleift die Rudimente herunter, nagelt und klebt neue Flecke auf, schleift noch einmal und wachst an der Ausputzmaschine – fertig.
Der Meister schleift die Rudimente herunter, nagelt und klebt neue Flecke auf, schleift noch einmal und wachst an der Ausputzmaschine – fertig.

Sind meine Schuhe noch zu retten? Das fragen sich die Leute, wenn das Quecksilber am Thermometer fällt und das Wasser in den Pfützen steigt. So kommt es, dass bei Schuhmachermeister Henry Bayer jetzt jeden Tag ein Korb voller Reparaturen an der Werkbank steht, meistens Winterschuhe. Eigentlich sollte im Korb das Sommerschuhwerk liegen. Die ordentliche Hausfrau, das pflegte Henry Bayers Vater zu sagen, erkennt man daran, dass sie schon im Sommer bringt, was im Winter kaputt ging. Meister Bayer indes übt Nachsicht mit den Säumigen, auch wenn der Schadensfall mal etwas kniffliger ist. „Eigentlich finden wir immer eine Lösung.“

Wenn Henry Bayer, 55, mit leimbekleckster Schürze und Brille auf der Stirn in seiner Pirnaer Werkstatt hockt, ist er die Mitte eines winzigen und zugleich unüberschaubaren Universums. Werkzeuge, Pressen, Leisten, Leimdosen, Stapel von Absatzflecken und Sohlenrohlingen, Schuhkartons und Lederstückchen umkreisen ihn. Als Schuhmacher muss man immer von allem etwas da haben, sagt er. Seine immensen Vorräte wird er im Leben nicht aufbrauchen können. Und trotzdem muss er alle paar Tage zum Großhändler, weil doch wieder irgend ein Teil fehlt.

Henry Bayer ist Schuhmacher in 5. Generation. Nicht nur dem Namen nach. Er baut tatsächlich Schuhe, wahrscheinlich als einziger weit und breit, abgesehen von den Orthopädie-Kollegen. Bis zu 600 Paare stellt er pro Jahr her, Clogs und Sandaletten, aber auch Halbschuhe und gefütterte Schnürboots. Ein Gutteil ist Maßarbeit. Das mögen die Leute. Die Aufträge für Neubauten „schieben“ ihn, sagt der Meister. Aktuell aber verwendet er viel Zeit darauf, gebrauchte Schuhe zu retten. Vor allen ältere Leute trennen sich ungern von eingelaufener Fußbekleidung. „Die hängen an ihren Schuhen.“

Zur Demonstration langt Henry Bayer ein flaches Damenmodell aus dem Korb der Invaliden. Biegsam wie eine Gerte ist der Schuh. Das sorgt für Bequemlichkeit. Der Nachteil: Die Sohle reißt und bröckelt. Ein Massenphänomen. Der aufgeschäumte Kunststoff verliert irgendwann den Zusammenhalt, mal früher, mal später. Eigentlich das Todesurteil für den Schuh, sagt der Fachmann. Auf Wunsch der Kundin wird er die Bröckelsohle abschleifen und eine neue aufkleben, auch die Absätze in Ordnung bringen – mit 22 Euro eine ziemlich teure Reparatur. Die Bundeswehrstiefel im Regal haben die gleiche Macke. Hier investiert der Besitzer sogar mehr als vierzig Euro für neue Sohlen, aus Liebe zum Schuh.

Der Reinigungszustand der Militärtreter zeugt allerdings nicht von großer Zuneigung. Da klebt noch der Dreck vom letzten Einsatz dran. Ein exemplarischer Fall. Etwa zwei von zehn abgegebenen Schuhpaaren sind so schmutzig, dass man sie vor der Reparatur eigentlich noch mal putzen müsste. Es passiert, dass die Leute vor der Annahme ihrer dreckigen Treter mit der Bürste vor die Tür geschickt werden. Meister Bayer erwartet keinen Hochglanz an seinen Werkstücken. „Sie sollen einfach nur sauber sein.“

Auch wenn es mit dem 6. Dezember einen inoffiziellen Ehrentag fürs geputzte Schuhwerk gibt – mit der Schuhpflege geht es immer mehr den Bach runter, sagt Henry Bayer. Mag sein, dass die Leute zu bequem sind, Schuhe zu putzen. Mag sein, dass es Mühe macht und Geld kostet, für jeden Schuh das passende Pflegeprodukt im Haus zu haben. Korrekt anwenden muss man es obendrein auch noch. „Man muss Ahnung haben, einen Schuh zu pflegen“, sagt der Meister. Er empfiehlt die kleinen Filmchen zu diesem Thema im Internet. Dort könne man sich von guten Schuhmachern erklären lassen, wie es geht.

Schuhe pflegen heißt auch, Reparaturen nicht aufzuschieben. Henry Bayer deutet auf ein Paar schicke Langschäfter. Die Frau hatte einen Absatzfleck verloren und war trotzdem weiter marschiert. Folge: Der Absatz litt derart, dass der Schuhmacher einen vollen Zentimeter herunter schleifen musste. Auch am intakten Stiefel. Er grient. „Sonst wäre die Dame ein Hanghuhn.“

Der nächste Notfall: ein Paar schwarze Stiefeletten. Rechtzeitig eingeliefert. Auch hier sind die Absätze fällig. Die Ausputzmaschine faucht. Der Meister entfernt die abgewetzten Flecke, sucht neue aus, setzt sich ans Fenster, klebt und nagelt, geht zurück zur Maschine, schleift, wachst und poliert – fertig. Schuhe, fast wie neu.

Die Zukunft der Schuhmacher sieht düster aus. Die Handwerkskammer Dresden zählt im Bezirk noch 37 Schuhmacher, im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sind es sieben, Tendenz fallend. Lehrlinge? Seit Jahren Fehlanzeige. Wenn kein Wunder geschieht, wird auch Henry Bayer eines Tages ohne Nachfolger Schluss machen. Es ist einfach zu hart verdientes Brot, sagt er. Und wer weiß, in zwanzig Jahren kommen die Schuhe vielleicht schon aus dem 3-D-Drucker. „Was wir hier machen, das stirbt definitiv aus.“