Von Ines Eifler
Über 700 Jahre alt ist das Pergament. Und was darauf mit schwarzer Eisengallustinte in altertümlichem Deutsch geschrieben steht, ist ein Stück der Gesetze, an die sich die Görlitzer in der Zeit um 1400 so zu halten hatten wie wir heute an das Bürgerliche Gesetzbuch. Von allein hätte Ratsarchivar Siegfried Hoche diese alten Handschriften vielleicht gar nicht entdeckt oder zumindest nicht entschlüsseln können. Denn sie sind „nur“ Einbände einiger Görlitzer Rechnungsbücher aus dem 17. Jahrhundert. Aber ein Wissenschaftler wurde durch Zufall aufmerksam, gab den Hinweis an den nächsten weiter und der an den nächsten. Und jetzt heißt es: „Es ist eine Sensation!“ Denn es handelt sich um sehr seltene Fragmente einer Handschrift des Rechtsgelehrten Nikolaus Wurm, der um 1400 im Görlitzer Rathaus arbeitete und hier unter anderem eine Glosse zum Sachsenspiegel schrieb. Der Sachsenspiegel war damals das geltende Gesetzbuch, die Glosse eine Art erklärende Handreichung zur Anwendung im Alltag.
Der Erste, der auf dieses Glossenfragment stieß, war der 1975 in Görlitz geborene Historiker Christian Speer, der zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg arbeitet. Während der Recherchen zu seiner Doktorarbeit, die er über städtische Eliten in Görlitz zwischen 1300 und 1550 schrieb, bemerkte er, dass einige der Bücher, die er benutzte, in sogenannte Makulatureinbände eingeschlagen waren. Das ist an sich keine Seltenheit. „Nach Erfindung des Buchdrucks wurden die alten Handschriften nicht mehr benötigt und für unwichtig gehalten“, sagt Christian Speer. „Die gültigen Gesetze lagen dann gedruckt vor, und es war häufige Praxis, die beständigen Pergamentseiten als Buchumschläge oder Buchrückenverstärkungen weiterzuverwenden. Oder sie wurden eingekocht und zu Leim verarbeitet.“
Bereits er hatte erkannt, dass es sich bei den Handschriften um alte Rechtstexte handelte, und einen Kommentar zum Sachsenspiegel vermutet. Um aber sicherzugehen und weil er annahm, dass im Görlitzer Ratsarchiv noch mehr Fragmente des Sachsenspiegels zu finden seien, fotografierte er die Einbände ab und schickte die Fotos an den Handschriftenforscher Ulrich-Dieter Oppitz aus Neu-Ulm.
Der war höchst interessiert. Der 74-jährige Rechtsanwalt hatte 1990 ein Buch über Handschriften und Fragmente mittelalterlicher Rechtsbücher veröffentlicht, aber auch danach nie aufgehört, sich mit dem Thema zu beschäftigen. „Ich bin seit damals eifrig dabei, Bibliotheken und Archive zu durchstöbern“, sagt er, „und freue mich, wenn sich die Lücken füllen.“ Dem Hinweis Christian Speers ging er auf die Spur, kam nach Görlitz und überzeugte sich davon, dass der jüngere Wissenschaftler recht hatte. Und forschte weiter. Ratsarchivar Siegfried Hoche erinnert sich noch gut daran: „Ich bin mit ihm in die hintersten Ecken des Archivs gekrochen.“ Was Oppitz schließlich fand, als er die Einbände mehrerer alter Rechnungsbücher geprüft hatte, waren fünf große in alter deutscher Handschrift beschriebene Bögen ein- und desselben Dokuments. Sie sind mit den Buchdeckeln fest verklebt. Wenn man sie davon ablösen und ausbreiten würde, hätte jedes dieser Doppelblätter A3-Format, und man könnte auch noch die Rückseiten lesen. „Es ist wirklich ein Glück, wenn man so etwas findet“, sagt Oppitz, „denn deutsche Einbände sind eine ganz große Seltenheit.“ Die meisten alten Handschriften, die man heute noch in Form von Bucheinbänden findet, seien in lateinischer Sprache verfasst. Auf 500 davon komme nur ein einziger in deutscher Sprache. In den Artikeln, die Oppitz fand, sind unter anderem Angelegenheiten des Erbrechts und des Familienrechts geregelt. Er stellte durch Vergleiche fest, dass der Verfasser dieser Texte Nikolaus Wurm sein müsse, einer der wichtigsten Kommentatoren des Sachsenspiegels. Man könnte nun noch herausfinden, ob das Görlitzer Fragment zu einer größeren bekannten Handschrift Nikolaus Wurms gehört. Oppitz erzählt, dass in der Berliner Staatsbibliothek und in Prag je ein Exemplar der Wurm’schen Glosse zum Sachsenspiegel liege und dass die Görlitzer Entdeckung durchaus ein Teil der Prager Handschrift sein könnte. Das aber müssen andere herausfinden, wenn sie denn möchten. Oppitz veröffentlicht das Ergebnis seiner Untersuchung demnächst in einem Beitrag für die Zeitschrift „Neues Archiv für Sächsische Geschichte“, hat aber seine und Christian Speers Entdeckung auch an einen Spezialisten für Sachsenspiegelglossen an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig übergeben. Auch in deren Veröffentlichungen wird in den kommenden Jahren sicher etwas über das Görlitzer Fragment zu lesen sein. „Zunächst aber“, meint Ulrich-Dieter Oppitz, „sage ich einfach: Hurra, es ist gefunden!“
Für Siegfried Hoche hat der Besuch des Neu-Ulmer Handschriftenforschers noch mehr Schätze zutage gefördert, als diesem wichtig war. „Oppitz hat auch Einbände geistlicher Handschriften gefunden“, sagt der Ratsarchivar, „die aus dem achten Jahrhundert, vermutlich aus dem Görlitzer Franziskanerkloster stammen.“ Aber das war nicht Oppitz’ Spezialgebiet. Und ist deshalb eine andere Geschichte.
Mehr über dieses Thema berichtet Ratsarchivar Siegfried Hoche am 13. Mai, 17 Uhr, auf der Veranstaltung „Schätze des Ratsarchivs“ im Rathaus Untermarkt. Dabei wird es vor allem um Makulatureinbände, Rechtshandschriften und die Geschichte der Klosterbibliothek gehen.