Das Hitler-Attentat, ein deutsches Denkmal

Der Ruf des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist bis heute fast unangreifbar. Einer der Gründe dafür ist, dass sein Frontdienst in Polen, Frankreich und Tunesien ihn nicht in die Nähe der großen Kriegsverbrechen brachte. Doch warum hat er so spät gehandelt? Warum erst an jenem 20. Juli 1944, der heute als zentraler Jahrestag des Widerstands gegen die NS-Verbrechen in den Geschichtsbüchern steht?
Die häufig gestellte Frage setzt voraus, dass der damalige Oberleutnant, Hauptmann oder Major Graf Stauffenberg Vorgänge so erkannte und beurteilte, wie wir sie heute im Rückblick sehen; ferner, die angemessene Reaktion eines Oberleutnants oder Hauptmanns des Heeres auf Verbrechen der Regierung sei, den Reichskanzler bzw. den militärischen obersten Befehlshaber umzubringen; und schließlich, eine frühere Gelegenheit habe zur Verfügung gestanden. Die Tat Stauffenbergs entsprang zudem keinem Augenblicksimpuls. Sie war das Ergebnis langer vergeblicher Versuche, die berufenen Führer zum Handeln zu bringen.
Zwar glaubte Stauffenberg noch im Herbst 1941, das Heer müsse zuerst den Feldzug gewinnen, während eines Krieges gegen die Bolschewisten dürfe man nicht die Führung untergraben. Doch nach dem Feldzug, sagte er damals, „werden wir mit der braunen Pest aufräumen“. Stauffenberg ließ seit 1941 Unterlagen sammeln über die Untaten der SS und der Sicherheitspolizei. Er arbeitete schon 1941 gegen Hitlers Politik der Ausrottung großer Teile der Bevölkerung der Sowjetunion. Empört war Stauffenberg, zuerst und zunächst, über die mörderische Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die Massenmorde an Zivilisten und Juden.
Im Winter 1941/1942 besprach er mit Oberleutnant Julius Speer, Abteilung Organisation der Versorgungstruppen, wie Hitlers Wahnideen zu steuern wären. Stauffenberg sagte: „Es gibt nur eine Lösung. Sie heißt [Hitler] töten.“ Stauffenberg und Speer waren sich einig, dass die Aktion von einem berufenen höheren Führer ausgehen müsse. Aus prinzipiellen und sachlichen Erwägungen wollte Stauffenberg ein legitimes Vorgehen.
Anlässlich eines neuen Berichts von Massenerschießungen durch die SS bei einem ukrainischen Ort im Mai 1942 sprach er mit Oberleutnant Hans Herwarth von Bittenfeld vom Auswärtigen Amt (Abteilung XIII für besetzte und unbesetzte Gebiete der Sowjetunion) über die Morde an den Juden und forderte Hitlers Beseitigung. Stauffenberg und Herwarth waren sich einig, dass dies die Aufgabe der Heeresgruppen- und Armeeführer sei.

Gewiss kannte Stauffenberg die schlimme Lage der deutschen Heere. Er wusste, dass im März 1942 von den 162 Infanterie-Divisionen der Front nur acht für Offensivoperationen einsatzbereit waren, dass die 16 Panzer-Divisionen der Ostfront zusammen nur noch 140 einsatzfähige Panzer hatten, weniger als den regulären Bestand einer einzigen Division, dass das Heer ein Drittel der Truppen verloren hatte, die im Juni 1941 angetreten waren, dass nur ein Bruchteil des nötigen Ersatzes da war. Aber er hielt damals den Feldzug nicht für verloren. Die militärischen Rückschläge waren nicht der Anlass für Stauffenbergs Verdikt, Hitler sei zu töten. Er wollte nun, angesichts der Massenverbrechen, Hitlers sofortigen Sturz.
Im August 1942 sagte er einem Mitarbeiter unvermittelt: Die erschießen massenhaft Juden; diese Verbrechen dürfen nicht weitergehen. Zur selben Zeit sagte er seinem Abteilungsleiter Oberstleutnant i. G. Burkhart Mueller-Hillebrand, es sei Zeit, dass ein Offizier sich eine Pistole einstecke und den „Schmutzfink“ Hitler über den Haufen schieße. Ebenfalls im August 1942, bei einem Besuch im Hauptquartier bei Winniza in der Ukraine, sagte er dem befreundeten Mitverschworenen Hauptmann Joachim Kuhn: „Die täglichen Berichte von Stäben über die Behandlung der Bevölkerung durch die deutsche Zivilverwaltung, der Mangel an politischer Zielgebung für die besetzten Länder, die Judenbehandlung beweisen, daß die Behauptungen Hitlers den Krieg für eine Umordnung Europas zu führen, falsch sind. Damit ist dieser Krieg ungeheuerlich.“
Am 12. Juni 1942 erinnerte er in einem Brief an den Oberkommandierenden der 6. Armee, General der Panzertruppe Friedrich Paulus, an die „Gesamtverantwortung“ des Offiziers; daran, dass an der Front „ohne Murren das Leben hingegeben wird, während sich die Führer und Vorbilder um das Prestige zanken oder den Mut, eine das Leben von Tausenden betreffende Ansicht, ja Überzeugung zu vertreten, nicht aufzubringen vermögen“. Auch dieser rückhaltlose Vorwurf blieb vergeblich.
Im September 1942, im Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres bei Winniza, war Stauffenberg in einer Besprechung über die empörendsten Fehlplanungen. Da fuhr er plötzlich auf und sagte, Hitler sei für alles verantwortlich und er, Stauffenberg, sei bereit, ihn zu töten – vor drei Zeugen, seinem Abteilungsleiter und zwei Majoren aus der Generalquartiermeisterabteilung. Der Abteilungsleiter meldete nichts, der erste Major auch nicht. Der zweite Major sicherte sich einen Zeugen dafür, dass der für eine Meldung zuständige Vorgesetzte Stauffenbergs dabei gewesen sei. Denn die Morddrohung gegen das Staatsoberhaupt und den obersten militärischen Befehlshaber war natürlich auch für die Zuhörer lebensgefährlich.

Oft ist der Vorwurf zu hören, Stauffenberg und seine Mitkämpfer seien „keine Demokraten“ gewesen. Gemeint ist wohl, dass sie nicht so dachten und handelten wie wir heute. Die Kritik ist also anachronistisch. Stauffenbergs Vorstellungen entsprachen gewiss nicht der Egalitätsideologie, die heute den öffentlichen Dialog beherrscht. Sie waren im Militär geformt nach dem meritokratisch-hierarchischen Prinzip.
Das Bekenntnis Stauffenbergs zu den Grundrechten der Weimarer Verfassung wird aber von den Kritikern fast immer unterschlagen. In den für den Umsturztag vorbereiteten Regierungserklärungen kündigten Stauffenberg, Generaloberst Beck, der Sozialdemokrat Julius Leber, der frühere Oberbürgermeister von Leipzig Carl Goerdeler und andere die Wiederherstellung der Grundrechte der Weimarer Verfassung an. Sie bekannten sich zum Rechtsstaat, zum demokratischen Sozialstaat, zu allgemeinen Wahlen – nach der Heimkehr der Frontsoldaten, denn die Soldaten sollten mitbestimmen.
Stauffenberg und sein Bruder Berthold entwarfen in den letzten Tagen vor der geplanten Erhebung ein Manifest, das für ihren engeren Kreis und für den wahrscheinlichen Fall ihres Untergangs ihre Gesinnung festhalten sollte. Manche Formulierungen darin mögen heute seltsam klingen. Sie entsprachen jedoch den Grundsätzen der Weimarer Verfassung: Recht und Gerechtigkeit für alle, Führende „aus allen Schichten des Volkes“.
Von den Brüdern Stauffenberg gibt es Äußerungen, die auf die Bedeutung der Tat hinweisen. Berthold sagte: „Das Furchtbarste ist, zu wissen, dass es nicht gelingen kann und dass man es dennoch für unser Land und unsere Kinder tun muss.“ Auch der Versuch zur Rettung des Landes vor weiterer Zerstörung war ein ehrenhaftes Motiv. Doch wenige Tage vor dem 20. Juli sagte Claus Stauffenberg: Wer gegen Hitler zu handeln wage, werde wohl als Verräter in die Geschichte eingehen; unterließe er jedoch die Tat, so wäre er ein Verräter an seinem Gewissen.
Als Claus Stauffenberg Ende Juni 1944 seinen Mitstreiter Generalmajor Henning von Tresckow fragen ließ, ob der Umsturz noch Sinn habe, antwortete dieser, das Attentat auf Hitler müsse um jeden Preis erfolgen und ebenso, im Fall des Misslingens, trotzdem noch der Staatsstreich. Es komme nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt die Tat gewagt habe. Nicht als Alibi für die Nachlebenden, sondern als Vermächtnis brachten Stauffenberg und seine Mitstreiter das Opfer des Lebens, der Ehre, des Leides ihrer Familien.
Die Tat war 1944 als Denkmal gedacht im wörtlichen Sinne, als Zeichen, dass einige Deutsche sich erhoben, um dem grauenvollsten Verbrechen in der deutschen Geschichte Einhalt zu gebieten.
Prof. Dr. Peter Hoffmann, geboren 1930 in Dresden, aufgewachsen in Stuttgart, ist ein deutsch-kanadischer Historiker. Seine Stauffenberg-Biografie gilt als Standardwerk (Pantheon-Verlag, 720 Seiten, 14,95 Euro). Er ist seit 1970 an der McGill University in Montreal Ordinarius für deutsche Geschichte, seit 1988 William Kingsford Professor of History und seit 1989 Fellow of the Royal Society of Canada.