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Hunderte falsche Bescheide für Wohngeld

Der Landkreis muss die Sozialkosten für Unterkunft bis 2013 rückwirkend neu berechnen. Das kann den gesamten Wohnungsmarkt verändern.

Von Gunnar Klehm
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In Freital-Zauckerode gibt es einige Mieter, deren Miet- und Heizkosten vom Sozialamt oder dem Jobcenter übernommen wird.
In Freital-Zauckerode gibt es einige Mieter, deren Miet- und Heizkosten vom Sozialamt oder dem Jobcenter übernommen wird. © Andreas Weihs

Wer gegen seinen amtlichen Bescheid zur Übernahme von Mietkosten durch das Sozialamt Widerspruch eingelegt hat, könnte nun zu einer kleinen Zusatzeinnahme kommen. Denn das Landratsamt muss die Kosten der Unterkunft für Sozialhilfeempfänger neu berechnen, und zwar rückwirkend bis 1. Juli 2013. Tausende Bescheide müssen nun überprüft werden. Für viele Mieter könnte es eine nennenswerte Nachzahlung geben. "Hier wurde auf Kosten derer gespart, die sowieso schon kaum etwas haben", sagt Kreisrat Lutz Richter (Die Linke) verärgert.

Im Landratsamt geht man davon aus, dass rund 200.000 Euro zu wenig ausgezahlt wurden und nun zusätzlich für das Jahr 2019 einkalkuliert werden müssen. Wie viele Bedarfsgemeinschaften genau betroffen sind, ist aber noch nicht ermittelt.

Warum muss neu berechnet werden?

Ausgangspunkt dafür, dass der Landkreis handeln musste, war ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Vorjahr. Das hatte das Konzept für die Berechnung der angemessenen Mieten, die eine Kommune bei Sozialfällen zu übernehmen hat, beanstandet. Kernpunkt ist dabei das Gebiet, innerhalb dessen einem Hilfeempfänger ein Umzug zumutbar ist, wenn er zu teuer wohnt.

Der konkrete Fall handelte zwar im Landkreis Segeberg in Schleswig-Holstein. Doch das angewendete Konzept wurde wie im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge von der Firma Analyse und Konzepte erstellt und ist mit dem hiesigen vergleichbar. Die darin aufgeschlüsselten Mieten stellen eine Höchstgrenze dar, für die Kommunen laut Sozialgesetz aufkommen müssen. Der Landkreis ist einem möglichen Gerichtsurteil zum eigenen Konzept nun zuvorgekommen.

Was muss der Landkreis erstatten?

Bisher standen einem Zwei-Personen-Haushalt in Bad Gottleuba beispielsweise 351 Euro für die Bruttokaltmiete für maximal 60 Quadratmeter Wohnfläche zu. Die gleiche Höchstsumme galt in Altenberg oder Stolpen, weil sie in den selben Vergleichsraum eingeordnet wurden.

Große Unterschiede gibt es bei den Mieten in diesen Gemeinden nicht. Doch ist das nachweisbar? Der Landkreis oder die mit der Aufgabe betraute Firma müsste dazu eine ausreichend große Anzahl von Daten erheben, aus denen der konkrete Höchstwert berechnet werden kann. "Das zweifeln wir für viele Kommunen an", sagt Lutz Richter.

Müssen Sozialhilfeempfänger umziehen?

Die sogenannten Vergleichsräume haben aber noch eine andere Funktion. Sie geben die Gebiete an, in denen es für Hilfeempfänger zumutbar ist, in eine günstigere Wohnung umzuziehen. Beispiel Bad Gottleuba: Wäre dort keine Wohnung mehr in der vorgeschriebenen Preiskategorie zu finden, aber stattdessen in Stolpen, müssten die Hilfeempfänger dorthin umziehen. "Gerade für Familien ist das doch nicht zumutbar allein schon wegen der Schule", sagt Richter. Ein Schulwechsel wäre die Folge, wichtige soziale Bindungen würden zerstört.

Deshalb hat der Landkreis nun - wie von Sozialgerichten gefordert - wesentlich kleinere Vergleichsräume gebildet. Dabei hat sich die Behörde insbesondere an der Schullandschaft und den Verkehrsverbindungen orientiert. Statt vier gibt es nun 15 verschiedene Vergleichsräume, auch wenn sich die Preise auf dem Mietmarkt in einigen nicht groß unterscheiden.

Wer legt die Höchstgrenzen fest?

Je kleiner die Räume, desto schwieriger ist es, genügend Daten über tatsächliche Mieten zu bekommen. Falls vorhanden, ist auf einen qualifizierten Mietspiegel zurückzugreifen. "Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge ist ein solcher nur für die Stadt Pirna verfügbar", heißt es aus dem Landratsamt.

Sind die Daten über örtliche Mieten nicht repräsentativ, müssen die Werte nach dem Bundeswohngeldgesetz angewendet werden - zuzüglich eines Sicherheitsaufschlages von zehn Prozent. In Bad Gottleuba ist das nun für Wohnungen bis 60 Quadratmeter der Fall. Einem Zwei-Personen-Haushalt würden dort nicht wie bisher 351 Euro an Kaltmiete erstattet, sondern nach Bundeswohngeldgesetz in der niedrigsten Kategorie bis zu 378 Euro plus 37,80 Euro also 415,80 Euro.

Das bedeutet aber nicht, dass jetzt jedem Sozialhilfeempfänger die Differenz von 351 Euro zu 415,80 Euro nachgezahlt wird. Entscheidend sind die tatsächlichen Kaltmieten. Liegen die ohnehin unter 351 Euro für einen Zwei-Personen-Haushalt in einer Wohnung bis 60 Quadratmeter ändert sich für die Betroffenen in Bad Gottleuba nichts. Jeder Einzelfall muss nun abgeglichen werden, denn je nach Personenanzahl und Kommune gelten verschiedene Werte.

Bekommen jetzt alle mehr Wohngeld?

"Im Bereich des Jobcenters sind etwa 400 Leistungsfälle betroffen, zu denen Widerspruchsverfahren oder Klagen laufen. Für den Bereich des Sozialamtes kann eine genaue Zahl hier nicht genannt werden, da eine umfassende Statistik nicht geführt wird", heißt es aus dem Landratsamt auf Nachfrage von Sächsische.de. Ob es in jedem dieser Widersprüche um Mieten ging oder um andere Kosten, muss noch ermittelt werden.

"Bereits bestandskräftige Bescheide sind nicht betroffen", heißt es aus dem Sozialamt des Landratsamtes. Doch wer hätte schon ahnen können, dass ein Bescheid von 2013 sechs Jahre später vom Gericht für falsch erklärt wird und ist dagegen vorsorglich in Widerspruch gegangen? "Das Verfahren im Landkreis haben wir schon lange angeprangert", sagt André Hahn, Kreisrat und Bundestagsabgeordneter der Linken. Seine Partei bietet regelmäßig Beratungen für Sozialhilfeempfänger an.

Ob die geschätzten zusätzlichen Kosten für den Landkreis von 200.000 Euro ausreichen, wird erst die Sisyphos-Arbeit der Mitarbeiter in den Ämtern ergeben.

Werden bald alle Mieten teurer?

Die neuen Mietbeträge, die vom Sozialamt erstattet werden, haben mittelfristig auch Folgen für alle anderen Mieter oder die soziale Durchmischung von Wohnvierteln. 

Will ein Eigentümer schwer vermietbare Wohnungen wenigstens an Sozialhilfeempfänger geben, darf die Miete nicht zu hoch angesetzt werden. Denn ist sie höher, als sie das Sozialamt übernimmt, zieht auch kein Sozialhilfeempfänger ein. Steigen nun aber die Höchstsätze die das Sozialamt übernimmt, könnten Vermieter höhere Preise verlangen. In der Folge ist es wahrscheinlich, dass auch alle anderen Mieten etwas teurer werden.

Andererseits werden aber auch weniger Sozialhilfeempfänger dazu gezwungen umzuziehen, wenn höhere Mieten erstattet werden. So wird dem entgegengewirkt, dass sich soziale Brennpunkte in bestimmten Wohnvierteln entwickeln. Das sollte zwar auch der politische Anspruch des Kreistages sein. Trotzdem müssen die von den Kreisräten beschlossenen Mietgrenzen angemessen und für den Landkreis bezahlbar sein. Werden die Sätze bewusst niedrig gehalten, muss der Landkreis weniger Geld dafür ausgeben.

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