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„Ich bin froh über jeden weiteren Tag“

Thomas Lerche aus Neukirch kämpft um sein Leben. Die SZ besuchte den Schwerkranken zu Hause.

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© Steffen Unger

Constanze Knappe

Neukirch. Ein Jahr älter ist Thomas Lerche geworden. So selbstverständlich ist das nicht. Dass der Neukircher jetzt seinen 47. Geburtstag erleben durfte, erscheint ihm selbst wie ein Wunder. Er leidet an einer besonders aggressiven Form des Blutkrebses. Mit der Diagnose Leukämie im Oktober gaben ihm die Ärzte noch ganze drei Monate Lebenszeit. Die sind inzwischen abgelaufen. Eine neue Prognose hat Thomas Lerche nicht. „Man kann ja nicht nur Pech haben“, findet er. Nach einem Schluck Kaffee fügt er hinzu: „Ich bin froh über jeden weiteren Tag.“ Ein sympathisches Lächeln macht sich breit auf seinem Gesicht, das so rot ist, als hätte er beim Skifahren zu viel Sonne abbekommen.

Thomas Lerche hat mehrere Chemotherapien hinter sich. Seit einigen Tagen erholt er sich zu Hause. In zwei Wochen muss er wieder „einrücken“. In der Universitätsklinik Dresden wird er mit einer weiteren Chemotherapie auf die Knochenmarktransplantation vorbereitet, die eine Woche später folgen soll. Es ist eine Chance, seine einzige. Ohne die Transplantation wäre nur eine vorübergehende Besserung zu erreichen. Der Neukircher weiß, dass Blutkrebs heilbar ist. „Die Statistik darüber nützt dem Einzelnen nichts. Es würde Einen nur verrückt machen“, sagt er. Weil der Körper jedes Menschen nun mal anders reagiert. Warum bei ihm der Blutkrebs ausbrach, dafür gibt es keine Erklärung. Ihn hat es erwischt, obwohl er immer sportlich war, viel Fahrrad gefahren ist, sich gesund und bewusst ernährt hat. „Jetzt ist so viel Gift in meinem Körper“, klagt er. Die härtesten Geschütze fahren die Ärzte gegen seinen Blutkrebs auf. Das blieb nicht ohne Folgen. Dennoch hadert der Leukämiekranke nicht mit seinem Schicksal.

Von der Chemo-Therapie gezeichnet

Seit Kurzem muss er eine andere Chemo-Tablette als zuvor nehmen. Sein Körper reagiert allergisch darauf. Daher sein knallrotes Gesicht. Das Jucken auf dem kahlgeschorenen Kopf, dem die Haare längst ausgefallen sind, lässt sich nur mit einer Salbe ertragen. Die Augen brennen. Er hat einen stark geschwollenen linken Fuß. Thomas Lerche holt einen dicken Ordner, seine Krankenakte. Die enthält den Schriftverkehr mit seiner Krankenkasse, unzählige Protokolle seiner Blutwerte, die stationär und jetzt ambulant ständig kontrolliert werden. Er verweist auf ein Blatt, auf dem die Wirkstoffe seiner Medikamente vermerkt sind und die Nebenwirkungen wie schwere Leberschädigungen oder ähnliches. „Wenn man das alles so liest, wird einem auch nicht besser“, kommentiert er.

Dennoch lässt Thomas Lerche den Kopf nicht hängen. Er erzählt von seinen Plänen. Davon, dass er die wegen der Leukämie geplatzte Reise mit seiner Tochter Sophie nach Kreta nachholen und mit dem Motorrad nach Marokko will. „Er ist so stark, so optimistisch“, erklärt seine Lebensgefährtin Andrea Bottin. Ohne den Optimismus hätte er kaum die Kraft, das alles durchzustehen, schätzt Thomas Lerche selber ein. Der Kampf gegen den Blutkrebs und damit gegen den Tod sei ein Kampf gegen die Uhr, sagt er und möchte das Wort Kampf am liebsten streichen. „Ich will mich nicht unterkriegen lassen“, sagt er und findet den Satz viel besser. Er will auch nicht ständig an die Krankheit denken, die irgendwie zur Routine geworden ist. Deshalb versucht er, zu Hause so normal wie möglich zu leben. Abgesehen von den Arztbesuchen in der Onkologie in Bautzen.

Er schwärmt von Gänsebraten

Thomas Lerche genießt die Zeit zu Hause. Weil es zu Hause ist, weil man in der vertrauten Umgebung viel mehr machen kann als im Krankenhaus, weil man nicht sieben Uhr aufstehen muss, egal ob man gut, schlecht oder gar nicht geschlafen hat, weil um einen herum nicht ständig medizinische Geräte fiepen und weil man endlich essen kann, worauf man Appetit hat, wie Spiegelei mit Käse zum Beispiel. Die Aufzählung sprudelt nur so aus ihm heraus. Er lacht und fügt dann nachdenklicher hinzu, dass durch die Medikamente sein Geschmacksempfinden gelitten hat. Der ständig salzig-bittere Geschmack im Mund sei „schon eklig“ und begleite ihn leider auch bei seinen Lieblingsgerichten. Er schwärmt von Gänsebraten mit Thüringer Klößen und einem guten Martini dazu.

Er geht viel raus an die frische Luft. „Auf der Straße, in der Apotheke überall werden wir angesprochen. Auch von wildfremden Menschen“, sagt Andrea Bottin. Das Mitgefühl, die große Hilfsbereitschaft, das sei einfach überwältigend, erklärt sie mit Tränen in den Augen. Auch in den sozialen Netzwerken ist die Anteilname am Schicksal des Neukirchers groß. Viele posteten bei Facebook einen Geburtstagsgruß und dass sie ihm die Daumen drücken.

In drei Wochen ist die Transplantation

Andrea Bottin trägt eine Maske vor Mund und Nase, desinfiziert sich mehrmals am Tag die Hände. Sie hat Bronchitis. Das Letzte, was Thomas Lerche jetzt gebrauchen könnte, wäre sich anzustecken. Zwar ist es um seine für die Infektabwehr zuständigen weißen Blutkörperchen nicht so schlecht bestellt, leichtsinnig dürfe er dennoch nicht sein. Wo doch in drei Wochen die Transplantation ansteht. Thomas Lerche weiß um die Risiken der OP. Es könnte sein, dass sein Körper die Stammzellen seiner Schwester Claudia trotz der gleichen Gewebemerkmale abstößt oder dass diese Zellen nicht anwachsen und dann kein neues Knochenmark bilden würden. Dass es schief gehen könnte, daran denkt er lieber nicht. Stattdessen hofft seine Familie mit ihm, dass alles gut verläuft und er von da ab jedes Jahr einen zweiten Geburtstag feiern kann.