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„Ich war ein Naturtalent“

Wolfgang Schnur war in der DDR Bürgerrechtler-Anwalt, flog in Wende-Zeiten als Stasispitzel auf, versuchte sich als Geschäftsmann – erfolglos. Er starb mittellos im Alter von 71 Jahren.

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© Wikimedia/BArch Bild 183-1990-0311-022/ADN-ZB/U. H

Von Peter Heimann

Als Helmut Kohl vor der ersten und letzten freien Volkskammerwahl 1990 durch die DDR zog, um der aus Ost-CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU) bestehenden „Allianz für Deutschland“ zum Wahlsieg zu verhelfen, wich ihm ein Mann nicht von der Seite: Wolfgang Schnur, zu DDR-Zeiten Anwalt von Bürgerrechtlern und Kirchenleuten und inzwischen DA-Chef. Er genoss es, wenn Kohl über ihn und die anderen Partner vom Zweckbündnis mit Lothar de Maizière und Wilhelm Ebeling schwärmte: „Das sind Männer, die Ihr Vertrauen verdienen.“ Schnur selbst sprach mehrmals von der Erwartung, der kommende DDR-Ministerpräsident zu sein. Ein paar Tage vor der Wahl fehlte Schnur plötzlich. Die ersten Erklärungen: Kreislaufprobleme und nervliche Erschöpfung. Es waren die letzten Versuche, die Wahrheit bis nach der Wahl unter der Decke zu halten: Wolfgang Schnur hatte über zwanzig Jahre lang bis in den Herbst 1989 als Inoffizieller Mitarbeiter eng und verlässlich mit der Stasi zusammengearbeitet – und wurde dafür auch bezahlt.

Jahre später wird er über seine Spitzeltätigkeit als „Wächter der DDR“ rückblickend fast stolz sagen: „Ich war ein Naturtalent.“ Der Liedermacher Stephan Krawczik, ein Schnur–Denunziationsopfer, schilderte seinen ehemaligen Freund als „warmherzigen Menschen“, dem er voll vertraut habe: „Ich habe in seinen Armen geweint. Der Wolfgang war im Knast so eine Art Seelendoktor.“ Bärbel Bohley urteilte Mitte der 90er-Jahre über Schnur: „Er ist ein wirklich unverbesserlicher Mensch. Ein hochkarätiger Verräter, der seit 1989 nichts gelernt hat.“

Schon in der DDR hatte Schnur Kontakte zur Familie von Angela Merkel, insbesondere zu ihrem Vater Horst Kasner, der in Templin als Leiter des Pastoralkollegs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg tätig war. Die junge Wissenschaftlerin Merkel lässt sich im Februar 1990 beurlauben und wird vom DA-Chef Schnur als hauptamtliche Mitarbeiterin eingestellt. Als eines Morgens eine Delegation erwartet wird und Schnur wieder mal in Hektik und Chaos ertrinkt, meint der zu seiner Parteifreundin: „Gehen Sie doch mal mit.“ Und weil sie dafür keine Legitimation hat, meint er noch: „Dann sind Sie ab jetzt eben Pressesprecherin.“ Den Job macht sie so gut, dass später Rainer Eppelmann, Schnurs Nachfolger als DA-Chef, dem neuen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière empfiehlt: „Nehmen Sie doch die Angela als zweite Regierungssprecherin.“ Während Merkel Schritt für Schritt Polit-Karriere macht, versucht sich ihr erster Parteichef – offenbar weitgehend erfolglos –, als Geschäftsführer, Investitions- und Projektberater, Firmengründer und Goldstaubhändler zu verdingen. Er führte ein Bekleidungs- und Handelsunternehmen in Dessau, suchte in der Hotel- und Baubranche und als Immobilienmanager sein Glück. Viele seiner Unternehmungen erwiesen sich als Luftnummern – 1999 hatte sich Schnur wegen Betrugsverdachts zu verantworten, nachdem er bei einer Privatbank in Berlin mit wahrscheinlich gefälschten Wertpapieren einen Millionenkredit aufnehmen wollte. Seine Anwaltszulassung hatte er längst wegen Mandantenverrats und „Unwürdigkeit“ verloren.

Schnur, der 1944 in Stettin geboren wurde, wuchs als Halbwaise auf, nachdem der Vater umgekommen und die jüdische Mutter in den Westen geflohen war. Er wurde 1946 von Pflegeeltern aufgenommen. Zunächst erlernte er den Maurerberuf, holte das Abitur auf der Abendschule nach und beendete ein Fernstudium als Diplom-Jurist an der Berliner Humboldt-Universität. Schnur hatte fünf Kinder, vier aus der ersten Ehe und ein weiteres aus einer langen Beziehung.

Vor einem Jahr berichtete Schnur: „Ich habe Prostatakrebs in der Endphase.“ Der 71-Jährige starb vorigen Samstag.