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Ihr kommt hier nicht rein

An der Grenze zu Serbien baut Ungarn einen neuen Eisernen Vorhang. Lassen sich die Flüchtlinge davon abhalten, ihr Schicksal über den Stacheldraht zu werfen? Ein Baustellenbesuch in Morahalom.

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© dpa

Von Mohamed Amjahid

Ein Soldat posiert mit seiner Handykamera für ein Selfie vor Maschendraht. Hier ist Ungarn. Hinter ihm liegt der Balkan. Man empfängt hier schon eine SMS mit „Willkommen in Serbien“. Daumen hoch und grinsend verewigt sich der Soldat. Dann greift er zur Kettensäge, fällt ein paar Bäume und macht Platz für das ungarische Megaprojekt: den Zaun.

Einen Kilometer aus Draht, Holz und Beton haben sie schon hingeklotzt zwischen der ungarischen Gemeinde Morahalom und dem serbischen Subotica. 174 weitere Kilometer sollen folgen. Die ungarische Regierung will keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen und versteht das als Freundschaftsdienst für die Europäische Union: Der eiserne Zaun soll ungebetene Gäste fernhalten.

500 Meter von der Zaunbaustelle entfernt, auf ungarischer Seite, hockt eine afghanische Familie im Dickicht und tunkt trockene Brötchen in lauwarmes Flusswasser. Großvater, Vater, Mutter und drei Kinder sind einfach vorbeigelaufen am neuen, streng bewachten Zaun. Ihre Flucht hat sie über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn geführt. Der Großvater erzählt von dem teuer bezahlten serbischen Fluchthelfer, der sie nach einem nächtlichen, fünfzehnstündigen Fußmarsch auf ungarischen Boden geschubst habe. Jetzt stehen sie am östlichen Rand der Europäischen Union und wundern sich über das, was hier geschieht.

Ausgerechnet die Ungarn waren es, die vor einem Vierteljahrhundert als Erste den Eisernen Vorhang öffneten. Sie rissen den Grenzzaun zu Österreich ein, Tausende DDR-Flüchtlinge liefen hinüber, und die Weltgeschichte nahm ihren Lauf. Wer hat damals schon geahnt, dass zum Lauf dieser Weltgeschichte auch die Osterweiterung der EU gehören würde? Und welche Konsequenzen das einmal haben würde? Nun ziehen sie in Ungarn den Vorhang wieder zu. Diesmal auf der anderen Seite des Landes. „Wir wollen keine illegalen Einwanderer!“ So hat es die Regierungspartei Fidesz im ganzen Land plakatieren lassen.

In Morahalom zeigt sich die ungarische Puszta von ihrer einladenden Seite: goldene Kornfelder, perfekt zusammengebundene Strohballen, summende Bienen, grasende Pferde. Ein neuer Radweg nach Serbien soll den Tourismus und die Mobilität der Grenzbewohner fördern. Gern schwingen sich die Leute hier in Badebekleidung auf ihre Fahrräder und genießen den Sommer. Zurzeit müssen sich die Fahrradfahrer die neuen Straßen allerdings mit Militärlastwagen teilen.

Bulldozer, Bagger und Walzen sind im Einsatz. Das Naturpanorama verschwindet hinter aufgewirbelten Staubwolken. Lkws und Dieselgeneratoren verscheuchen die Kraniche. An der Baustelle bildet sich vor dem einzigen Dixiklo eine lange Schlange. Deswegen verdrücken sich auch einige Soldaten ins Dickicht, wo sie am späten Vormittag auf die Flüchtlinge stoßen. Eher zufällig macht also die afghanische Familie Bekanntschaft mit den Grenzern, die sich laut und gestenreich wundern. Wie konnten die Flüchtlinge nur unbemerkt an ihnen vorbeilaufen? Verdutzt schauen sich Staatsmacht und Hilfesuchende an.

Mit einer Handbewegung dirigiert der Einsatzleiter die Familie in den Polizeiwagen. Der Großvater tauscht noch schnell seine Turnschuhe gegen Flipflops an den schmerzenden und entzündeten Füßen. Eines der Kinder, es mag ungefähr sechs Jahre alt sein, liegt wie bewusstlos in den Armen seiner Mutter. Um 11 Uhr ist die Temperatur schon auf 37 Grad gestiegen. Die Hose des Mädchens war mal mit Blümchen in grellen Farben verziert, nach drei Monaten Flucht hat sich eine dicke Schmutzschicht über das Muster gelegt.

Mehr als 80 000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr schon über das EU-Nachbarland Serbien nach Ungarn gekommen. Allein an diesem schwül-heißen Juliwochenende werden weitere 1 500 gezählt. Die meisten ziehen schnell weiter – nach Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und Schweden. Die afghanische Familie will nach Wien, München oder Berlin. Warum sie ihre Heimat verlassen hat? „Taliban“, sagt die Mutter. Drei Generationen lassen sich in den Kastenwagen fallen. Die ungarischen Polizisten werden sie in ein Auffanglager fahren. Ihre Personalien werden sie mit großer Sicherheit nicht aufnehmen. Der wortkarge Vater schaut noch ein letztes Mal auf die Puszta, blickt auf den glänzenden Zaun, schließt die Augen – dann schiebt ein Polizist die Tür zu.

„Staatsgrenze“ steht auf einem Schild an den Probezäunen. Auf Ungarisch, Englisch und Deutsch. Das Innen- und das Verteidigungsministerium experimentieren noch: Je nach Geländeform kommt eines von zwei Zaunmodellen zum Einsatz, beide sind vier Meter hoch und werden von ungarischen Häftlingen gefertigt. Die einfache Variante besteht aus Nato-Stacheldraht auf Holzbohlen, das Deluxe-Modell stützt sich auf ein Betonfundament. Mindestens zwanzig Millionen Euro will die Regierung in die neue Grenzsicherung investieren. Bis Ende August soll die Grenze hier dicht sein.

Wird die Theorie der Praxis standhalten? Wird der Zaun die Flüchtlinge wirklich abhalten?

Ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums sticht mit seinem himmelblauen T-Shirt, kurzer Jeanshose und einer verspiegelten Sonnenbrille aus der Masse der Soldaten heraus. Die neongelbe Sicherheitsweste hat er lässig über die Schulter geworfen. Er rüttelt kräftig am Zaun, zieht am Stacheldraht, macht sich Notizen. In der Testphase werden noch ein paar Soldaten über die Zaunabschnitte gescheucht. Es soll ermittelt werden, wie viele Flüchtlinge den Zaun theoretisch in einer Minute überwinden können. Ist es möglich, unter dem Stacheldraht durchzukriechen, ohne sich schwer zu verletzen? Kann man ohne gescheites Werkzeug ein Loch in den Zaun schneiden? „Wir suchen auch nach untrainierten Testpersonen“, sagt der Mann vom Ministerium, der eigentlich nicht mit der Presse sprechen darf. Die wenigsten Flüchtlinge hätten ja eine militärische Ausbildung.

Die Härtetests mit den Soldaten und den „untrainierten Bürgern“ finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Berichte mit dem Zaun im Hintergrund gab es bis jetzt meist nur im ungarischen Staatsfernsehen. „Alles läuft nach Plan“, heißt es dort täglich in den Nachrichten, „der Zaun wird die illegalen Migranten fernhalten.“ Dann folgen für gewöhnlich Beiträge, in denen Magyaren in Volkstracht tanzen.

Als der Einsatzleiter von der Anwesenheit eines deutschen Journalisten erfährt, lässt er erst einmal die Büsche rund um den Zaun säubern. Die Fundstücke im Dickicht erzählen Tausende Geschichten von Abertausenden Menschen: Plastikflaschen aus Griechenland. Turnschuhe mit riesigen Löchern. Sakkos mit warmer Winterfütterung. Zigarettenschachteln aus der Türkei. Bücher und Magazine auf Arabisch, Dari und Urdu. Ein Stofftier, das nur noch ein Knopfauge besitzt.

Auch andere haben ihre Spuren hinterlassen. „Macht Ungarn nicht schmutzig!“, steht auf Englisch auf einem kleinen Schild. „Geht zurück!“, lautet eine andere Botschaft. „Wir wollen euch nicht!“ All diese Botschaften sind sorgfältig an Holzstöcken befestigt. Vor einigen Tagen haben örtliche Skinheads unweit der Grenze ein junges Paar zusammengeschlagen, dessen Hautfarbe ihnen zu dunkel war. Als bekannt wurde, dass es sich bei den schwer verletzten Opfern um ungarische Staatsbürger mit arabischen Wurzeln handelte, entschuldigte sich die Schlägertruppe. Man habe sich doch nur Sorgen um seine wunderschöne Puszta gemacht. Rechte Gruppen versprechen im Internet, Ungarn von „den Feinden“ zu säubern. Die „Ungarische Nationale Front“ (MNA) will die Grenze des Vaterlands auf eigene Faust mit Waffen verteidigen.

Der Zaun werde auch dieses Problem lösen, heißt es in den Straßen, Bäckereien und Kneipen von Morahalom: Keine Flüchtlinge bedeutet auch weniger schlagende Skinheads und kriegerische Nazis.

Agnes, die Bäuerin, die das Land direkt an der neuen Grenzanlage bewirtschaftet, macht sich bei fast 40 Grad in der Mittagssonne Sorgen um ihre Ernte. Dann gönnt sie sich doch ein Päuschen und fährt mit einem nassen Tuch über die Stirn. Sie ziert sich ein bisschen, über das zu sprechen, was da vor ihrem Kartoffelacker passiert. Später bricht es doch aus ihr heraus: „Ich finde den Zaun gut. Ich will meine Ruhe haben.“ Vor ein paar Monaten habe sie den Flüchtlingen noch Wasser gegeben, sogar Mitleid empfunden, vor allem für die Kinder. Dann aber seien es zu viele Flüchtlinge geworden.

Unter ihren Fingernägeln steckt viel fruchtbare Erde. Auf dem Acker ihres Schwiegersohns sortiert Bäuerin Agnes die hässlichen Kartoffeln für den Eigenbedarf aus, auf den großen Rest passt sie ganz genau auf. Nicht, dass sich die Flüchtlinge bedienen. „Die wollen auch gar keine Hilfe, die finden selber den Weg“, sagt sie. Der Zaun direkt am Acker werde Ungarn und ganz Europa die ersehnte Ruhe bringen. „Mein Schwiegersohn ist auch dafür.“

Ein ungarisches Nachrichtenmagazin hat gerade aufgedeckt, dass der ungarische Staat das Bauland für den Testzaun zu teuer erworben hat. In Morahalom hat davon wohl auch der Bruder des Bürgermeisters profitiert. Er ist der Schwiegersohn von Bäuerin Agnes.

Dieser Bürgermeister heißt Zoltán Nógrádi, nach mehreren Anfragen empfängt er zum Interview im Besprechungsraum des Rathauses. Der Zaun ist von hier aus eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, doch das Projekt ist allgegenwärtig: Militärfahrzeuge dröhnen ständig durch den Ort. „Die Medien lügen, ich sage daher nur noch kurze Sätze“, erklärt Zoltán Nógrádi. Man habe ihn schon mehrfach falsch zitiert.

Er habe eigentlich nichts gegen Flüchtlinge, auch würde er sich nicht am nationalen Projekt bereichern. Den Grenzzaun am Rande seiner Gemeinde finde er ausgesprochen gut. Das Wohl der ungarischen Bürger müsse schließlich im Fokus stehen. „Zumindest hat niemand eine bessere Lösung für das Flüchtlingsproblem“, sagt der Bürgermeister. Die Bewohner der Puszta zeigten durchaus Mitgefühl, sie seien aber definitiv überfordert mit dem Zustrom aus dem Balkan. Zwei Drittel der ungarischen Bürger unterstützen laut Umfragen die Regierung in ihrem Kurs. Die Bilder vom Zaun kommen gut bei den Wählern an.

„Wo sind unsere europäischen Partner?“, fragt Zoltán Nógrádi. Europa habe Morahalom im Stich gelassen. Der Zaun ist die Lösung, und die anderen EU-Regierungen würden es Ungarn noch danken.

An einer anderen EU-Außengrenze steht schon seit 17 Jahren etwas Vergleichbares. Rund um die spanischen Enklaven Melilla und Ceuta in Marokko soll auch ein Zaun die Flüchtlinge kurz vor ihrem Ziel stoppen. Im Fünfjahresrhythmus wächst diese Grenzanlage weiter in die Höhe. Aber sogar sieben Meter Maschen- und Nato-Draht machen den Flüchtlingen anscheinend nicht viel aus. Auch an der Grenze zwischen Mexiko und den USA steht seit fast zehn Jahren so eine Anlage. Und doch halten die Zäune der reichen Industriestaaten nirgendwo die Flüchtlinge davon ab, ihr Schicksal und ihre Körper über Stacheldraht zu werfen.

Am Bahnhof von Szeged, der größten ungarischen Stadt in der Umgebung von Morahalom, stehen rund hundert Flüchtlinge. Sie sollen in Züge Richtung Westen steigen. Die meisten stammen aus Afghanistan. Auch die afghanische Drei-Generationen-Familie aus dem Dickicht nahe am Zaun ist dabei. Zwei Tage hat sie im Lager bei Röszke unweit der Zaunbaustelle verbracht. Die Polizei hat ihre Fingerabdrücke nicht registriert. Die afghanische Familie will nun auf jeden Fall nach Deutschland.

Große Pflaster kleben nun an den Fersen des Großvaters. Freiwillige Helfer verteilen in einer kleinen Holzbude Medizin, Wasser, Schokoriegel, Seife und Zahnbürsten. Der Großvater stellt sich vor: „Mein Name ist Ali.“ Er wäscht sich an einem auf dem Bahnhofsvorplatz aufgestellten Waschbecken das Gesicht. Über den Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze kann er nur lachen: „Wir haben von Afghanistan bis in die EU mehr als nur einen Zaun überwunden.“ Dann fährt ihr Zug ein, sie müssen weiter.