SZ +
Merken

In Obhut genommen

Immer mehr Kinder müssen vom Jugendamt aus ihren Familien geholt werden. Was ist da los?

Teilen
Folgen
NEU!
© René Plaul

Von Jana Ulbrich

Der Teddy wartet wieder. Eben noch hat er sich fest an Mia* gedrückt. Die Dreijährige und ihr fünfjähriger Bruder Tim* ziehen jetzt erst einmal ins Kinderheim. Eine Mitarbeiterin vom Jugendamt hat die beiden gerade abgeholt. Linda Keller* bezieht das Doppelstockbett, in dem die Geschwister in den letzten Tagen geschlafen haben, gleich wieder frisch. Die Leiterin der Bautzener Inobhutnahmestelle weiß, dass das Bett jeden Moment wieder gebraucht werden könnte.

Bei Mia und Tim fällt es den Erzieherinnen im Kindergarten auf. Die Geschwister haben oft schmutzige Sachen an, die nicht passen oder viel zu kalt sind. Meistens haben sie keine Brotbüchsen mit. Und immer öfter kommen sie morgens gar nicht. Die Leiterin des Kindergartens informiert das Jugendamt. Eine Mitarbeiterin fährt zum Familienbesuch. Was sie vorfindet, ist erschütternd: eine völlig verwahrloste Wohnung, zwei völlig vernachlässigte Kinder und Eltern, die betrunken sind und offensichtlich unter Drogen stehen. Eine „akute Situation von Kindeswohlgefährdung“, notiert die Mitarbeiterin des Jugendamtes.

In so einem Fall kann nicht erst lange diskutiert werden. Mia und Tim werden umgehend aus der Wohnung gebracht. „Sie haben geweint und waren völlig verstört“, erinnert sich Linda Keller an den Abend, an dem die Geschwister in der Inobhutnahmestelle ankommen. Die 28-jährige Sozialpädagogin erlebt solche Situationen oft. Die acht Plätze in der Bautzener Einrichtung sind fast immer belegt. Linda Keller kocht Mia und Tim erst einmal Kakao. Dann kommt der Teddy ins Spiel, den Mia gleich an sich drückt. Die Dreijährige hat panische Angst vorm Duschen.

Max will nicht mehr nach Hause

Mia und Tim sind ein typischer Fall in der Inobhutnahmestelle. Ein anderer ist Max*. Eine Polizeistreife greift den 14-Jährigen nachts an einer Bushaltestelle auf. Er hat Hunger und ist völlig übermüdet, als die Polizisten mitten in der Nacht mit ihm vor der Tür stehen. Nach Hause zu den Eltern will er auf gar keinen Fall. Deswegen, sagt er, ist er ja abgehauen. Der Erzieher, der in dieser Nacht Dienst hat, schmiert ihm eine dicke Wurstschnitte. Dann fällt Max todmüde ins Bett.

Am nächsten Morgen informiert der Erzieher die Eltern. Am Frühstückstisch beginnt Max zu erzählen, wie das so ist bei ihm zu Hause und warum er nicht mehr zurück will. Es folgen mehrere Gespräche mit den Eltern. Am Ende wird die Entscheidung fallen, Max in einer betreuten Jugendwohngruppe unterzubringen. Bis ein geeigneter Platz für den 14-Jährigen gefunden ist, kann er in der Inobhutnahmestelle wohnen bleiben. Er ist jetzt schon ein paar Wochen da. Auch die Plätze in den betreuten Wohngruppen sind rar.

Max spielt Tischtennis mit Ray* wie fast jeden Nachmittag. Ray ist ein minderjähriger Flüchtling aus Indien – ohne Eltern, ohne Angehörige, ohne Papiere. Auch er hat Zuflucht in der Inobhutnahmestelle gefunden. Die Ausländerbehörde hat ihn gebracht. Ray ist schätzungsweise 15. Er kann sich nur schwer verständigen, auf Englisch erzählt er, dass seine Eltern ein Feld verkauft haben, um seine Schleusung nach Deutschland bezahlen zu können. Sie glauben, er könne hier eine Ausbildung machen. Der Junge muss jetzt einen gerichtlichen Vormund bekommen. Auch er kann bleiben, bis geklärt ist, was mit ihm wird.

Ray ist einer von zwei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die vom Jugendamt in diesem Jahr in Obhut genommen wurden. Linda Keller schätzt, dass diese Fälle zunehmen werden. Genauso wie auch die Inobhutnahme von Kindern zunimmt, deren Eltern drogenabhängig sind. Vor allem Crystal wird gerade hier in Grenznähe zu einem immer größeren Problem. Die chemische Droge ist billig und in den tschechischen Grenzorten leicht zu bekommen. Crystal aber macht sehr schnell abhängig, und abhängige Eltern sind sehr schnell nicht mehr in der Lage, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern.

Alkohol, Drogen, Trennungen

„Wir merken auch, dass die Probleme in den Familien komplexer und vielschichtiger werden“, sagt Harith Krenitz vom Allgemeinen Sozialen Dienst im Jugendamt. Neben Alkohol und Drogen spielen häufig auch Trennungen eine Rolle, in denen Eltern ihren Streit auf dem Rücken der Kinder austragen und sie zum Spielball für ihre Zwecke machen. Auch die Zahl völlig überforderter Eltern, vor allem alleinerziehender, steigt. „Ein Kind in Obhut zu nehmen ist immer ein enormer Eingriff in die Autonomie einer Familie und für die Kinder auch immer sehr dramatisch“, weiß Harith Krenitz. „Und doch ist dieser Schritt unumgänglich, wenn wir merken, dass das Kindeswohl in Gefahr ist.“

118 Kinder und Jugendliche waren es bis vorige Woche, die die Mitarbeiter des Jugendamts in diesem Jahr schon aus ihren Familien holen mussten oder die – wie Max – von sich aus vor den Türen der beiden Inobhutnahmestellen in Bautzen und Hoyerswerda standen. Wenn das so weitergeht, sagt Harith Krenitz, dann werden es wohl bis zum Jahresende so viele wie noch nie sein. Insgesamt 180 Inobhutnahmen gab es im vorigen Jahr, 192 waren es 2013. In den Jahren davor waren es viel weniger.

In den allermeisten Fällen ist Vernachlässigung und Unterversorgung der Kinder der Grund für eine Inobhutnahme, meistens, weil die Eltern Drogen nehmen oder trinken, oder weil Gewalt in der Familie herrscht. Schwere Misshandlung und Missbrauch sind seltener. In der Inobhutnahmestelle sollen die Kinder zur Ruhe kommen, bis eine Perspektive für sie gefunden ist. Das kann wenige Tage, aber auch Wochen und Monate dauern. „Erstes Ziel ist es immer, den Kindern wieder ein Leben in der Familie zu ermöglichen“, sagt Harith Krenitz. Das aber gelingt nur in einem Viertel der Fälle. Und wenn, dann bekommen Eltern meist weiterhin ambulante Hilfen und Betreuung.

In der Inobhutnahmestelle lernen die Kinder auch, dass Familienleben etwas anderes sein kann als das, was sie bisher von zu Hause kennen. Sie leben gemeinsam mit den Erziehern und Sozialpädagogen wie in einer Großfamilie. Es gibt Regeln, geregelte Essenszeiten und abendliche Rituale. Die Kinder lernen, was Respekt ist und dass es auch ohne Gewalt geht.

Kein eigenes Bett zu Hause

Auch wenn sie nichts über sich und ihre Familie erzählen, merken die Mitarbeiter sehr schnell, was sie brauchen und was ihnen fehlt. „Das ist ja so schön sauber hier“, hat ein Siebenjähriger kürzlich ganz erstaunt gesagt, erzählt die Leiterin. „Es gibt Kinder bei uns im Kreis“, sagt die Sozialpädagogin, „die haben zu Hause kein eigenes Bett. Und es gibt Kinder, die bekommen an den meisten Abenden kein Abendbrot“. Mehr als 1 200 Familien im Kreis werden derzeit in unterschiedlicher Form vom Jugendamt betreut. Aber viele Kinder müssen auch aus bis dahin völlig unauffälligen Familien in Obhut genommen werden. So wie Mia und Tim. Die beiden haben jetzt aber die Chance auf ein neues Familienleben. Die Inobhutnahme hat die Eltern aufgerüttelt. Sie unterziehen sich jetzt beide einer Suchttherapie. Tim und Mia werden sie regelmäßig besuchen.

Linda Keller sieht nachdenklich aus. Sie setzt den Teddy auf den Spielteppich vors Doppelstockbett. Er wird hier wohl nicht lange warten müssen.

Aus Datenschutzgründen und zu ihrer Sicherheit haben wir die Namen der Kinder und der Leiterin der Einrichtung geändert.