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Kaltwasser kauft bei „Emma“

Postdienst, Lieferservice, Gastronomie – Marlies Grasse versorgt den 250-Seelen-Ort rundum. In ihrem Laden pulsiert das Leben.

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Von Rita Seyfert

Für die meisten ihrer Kunden heißt Marlies Grasse einfach nur „Emma“. Ihr kleiner Laden in Kaltwasser Am Kulturhaus 1 ist ein Insider-Tipp. Wer von auswärts kommt, fährt dran vorbei. Kaum größer als eine Garage, deckt ihr Angebot den Bedarf des täglichen Lebens aber umfassend ab. Vom Milchhörnchen über Waschpulver bis zur Bild-Zeitung liegt so gut wie alles in ihren Regalen, was man in Kaltwasser zum Leben braucht. Sogar Osterglocken: „Wenn die Leute ihre Weihnachtsdekoration wegräumen, wollen sie einen frischen Strauß Frühblüher“, sagt sie.

Für das 250-Seelen-Dörfchen ist Marlies Grasse eine feste Instanz. Bei ihr erfahre man, wo was geht. Ob Schlauchboot-Fahren auf der Neiße, der Revue-Besuch im Berliner Friedrichstadt-Palast, vieles entstehe spontan. Beispielsweise werde morgens an der Kasse beschlossen, abends auf dem Inselsee Schlittschuh zu laufen. Da könnte schon eine größere Gruppen zusammenkommen, wenn sie die Nachricht weiter trägt. Und natürlich werde auch getratscht.

„Ich könnte Familiendramen erzählen“, sagt die Frau, die mitheulen und lachen kann. Ihr Grundprinzip der Loyalität stehe aber über allem. Was unter vier Augen in ihrem kleinen Anbau geredet wird, das bleibe nur da. Und auch sonst gehe es immer fair zu. Neben ihren Kunden wüssten das auch die Lieferanten zu schätzen. Der Gener Getränkehandel aus Kiesdorf ist Marlies Grasse bereits seit der Eröffnung treu. Auch die Bäckerei Kämmer aus Kodersdorf liefert schon von Anfang an Semmeln und Sauerteigbrot. Immer montags, mittwochs und sonnabends baut Marlies Grasse ihre Backwaren-Theke auf. Dann könne es schon ganz schön eng werden. Im Sommer reiche die Schlange bis in den Hof, doch im Winter rücken alle zusammen. Und bei Alfred Tschirch, dem Großvater von Bäcker Michael Tschirch aus Ober-Neundorf, habe Marlies Grasse schon als Kind Schlesischen Streuselkuchen eingekauft. Geändert haben sich seither nur die Mengen, die sie dort bestellt.

1991 machte sich Marlies Grasse selbständig. Damals gab es im Umkreis weder Discounter noch Großmärkte. Der Konsumladen im heutigen Ortschaftszentrum in Kaltwasser war zur Privatisierung ausgeschrieben. Der Einzelhandel war der gebürtigen Zodelerin nicht neu. Schon zu DDR-Zeiten arbeitete sie bei der HO als Verkaufsleiterin in der Betriebsverkaufsstelle in Kodersdorf. Doch nach der Wende schossen auch die Filialen der großen Supermarktketten überall wie Pilze aus dem Boden. Der allmählich einsetzende Strukturwandel war einer der Gründe, warum Marlies Grasse mit ihrem Laden 1998 auf ihr Grundstück zog.

So konnte sie die Miete sparen. Und die Öffnungszeiten von acht Stunden senkte sie auf drei. Kaltwasser ist ein Frühaufsteher-Dorf. Die ersten Kunden stehen um halb sieben auf der Matte. „Die kommen von der Nachtschicht, die schicke ich nicht nach Hause“, sagt sie. Offiziell öffnet Kaltwassers „Emma“ von sieben bis zehn. Falls aber jemand abends noch dringend eine Flasche Sekt kaufen will, lässt sie sich auch aus der Dusche klingeln und stellt sich notfalls auch im Bademantel hinter die Kasse.

Dieses Jahr feiert sie ihr 25-jähriges Jubiläum. Seit ihrer Gründung ist Marlies Grasse auch expandiert. Zwischenzeitlich konnte sie sogar auf acht Einzelhandelsläden und 16 Angestellte blicken. Auf Messen rollte man ihr den roten Teppich aus. „Kaufste viel, biste wer“, das habe sie in dieser Zeit gelernt, aber nicht geschätzt. Da seien ihr die regionalen Händler lieber. Trotz des weiten Anfahrtsweges könne sie ihre Bäcker auch anrufen, wenn ihr die Semmeln zum Wochenende ausgehen. Und vielleicht zahlen die sogar einen Euro drauf. Dieser Euro kompensiere sich aber, weil man die Kunden nicht verliert.

Ältere Herrschaften lassen liefern

Bei Marlies Grasse ist der Kunde noch König. „Wenn einer Dallmayr Prodomo will, und ich habe nur Jacobs Krönung, dann steht der richtige Kaffee am nächsten Tag im Regal“, sagt sie. Doch im Grunde sei sie auf den speziellen Bedarf in Kaltwasser eingestellt. Nach 25 Jahren weiß sie auch, in welchen Mengen die Silvesterknaller über den Ladentisch gehen. Dass Marlies Grasse in der Geiz-ist-geil-Ära überlebte, ist sicher auch ihrem Ideenreichtum geschuldet. Wenn der Seniorenverein, die Feuerwehr oder Familien bei ihren Feiern auf die Pauke hauen, dann stellt sie ihre Waren auf Kommission zur Verfügung. „Bezahlt wird nur der Verbrauch“, erklärt sie das Modell. Und beim alljährlichen Sommerfest in der Gartensparte am Inselsee übernimmt Marlies Grasse die gastronomische Versorgung und stellt sich hinter den Ausschank. Eine weitere Dienstleistung ist ihre Freihauslieferung. Davon machen vor allem die älteren Herrschaften des Dorfes Gebrauch, die nicht mehr so gut zu Fuß sind.

Neben ihrem „Tante-Emma-Laden“ in Kaltwasser betreibt Marlies Grasse heute nur noch ihren Görlitzer „Frischemarkt Grasse“ in der Hohe Straße/Ecke Heilige-Grab-Straße. Dort nimmt sie auch Briefe, Einschreiben und Pakete entgegen und verkauft Briefmarken. Bei einigen ihrer Görlitzer Kunden komme auch Anschreiben mal vor, wenn wirklich ganz große Not herrsche. Denn bei aller Geschäftstüchtigkeit müsse man auch menschlich bleiben.

In der nächsten Folge unserer Serie „Einkaufen bei Tante Emma“ lassen wir die Ortschronisten erzählen, was es früher alles für Läden in den Gemeinden gab.