SZ +
Merken

Karl Stülpner rettet den Stülpner-Karl

Legende. Ein Bayer hält in Leipzig das Andenken an seinen berühmtenUr-Ur-Ur-Ur-Großvatergerne wach.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Annegret Schneider

Dass Menschen auf seinen Namen komisch reagieren, ist erst seit 15 Jahren so. Da zog er von Bayern nach Sachsen. „Gestatten, mein Name ist Karl Stülpner.“ „Und ich bin Robin Hood“, antworteten Fremde, wenn sich der Geschäftsmann ihnen vorstellte. Wenn er dann noch berichtete, dass er tatsächlich mit der sächsischen Legende verwandt ist, war das Staunen groß.

Inzwischen hat der 49-Jährige viel über seinen Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater geforscht. Und als Erstes herausgefunden, dass viel Unsinn erzählt wird über den Stülpner-Karl. „Er war kein Räuber, sondern ein Wildschütz – er hat niemanden umgebracht, sondern lediglich ohne Genehmigung Tiere geschossen.“ In seiner Familie könne man gut sehen, wie Eigenschaften vom Stülpner-Karl an die Generationen weiter gegeben wurden, sagt er. Jäger, Techniker, Mediziner, Händler seien unter den Nachfahren zu finden. Und Rabauken, die eine Mischung aus allem sind, wie das Original aus dem frühen 19. Jahrhundert. Dazu zählt sich auch der Geschäftsmann aus Leipzig, der sich heute gelegentlich und mit einem Augenzwinkern als Stülpner-Karl der Fünfte vorstellt. Weil er im Stammbaum der Fünfte ist, der den gleichen Vornamen wie der Volksheld trägt.

Die Wohnung im Osten der Stadt nennt er seine „Räuberhöhle“. Kitsch hängt an der Wand, Souvenirs aus dem Erzgebirge, alte Flinten. Bücher stapeln sich in Regalen, tragen Titel wie „Der Grüne Rebell“ oder „Der Stülpner-Karl – Geschichte des erzgebirgischen Wildschützen“. Karl Stülpner sammelt das alles, nennt viel davon „aufgeblasenen Touristen-Scheiß“. Nur auf die Kanonenkugel ist er ein wenig stolz, die in einer Ecke liegt. Aus der Zeit seines legendären Vorfahren stammt die, wahrscheinlich aus den Napoleonischen Kriegen, vielleicht aus der Völkerschlacht bei Leipzig. Auch einige der Bücher gehören wohl zu den wertvolleren Sammlerstücken – Erstausgaben von Stülpner-Geschichten, die über 100 Jahre alt sind.

Herkunft des Namens

Karl Stülpner hat sich in den vergangenen Jahren einen Überblick verschafft über das, was die Sachsen mit dem berühmten Namen so alles anstellen. Wenn er pingelig wäre, könne er einiges verbieten lassen, sagt Stülpner. Das Wappen zum Beispiel (siehe Kasten) hat die Familie weltweit schützen lassen. Sobald dieses oder der Name nun auf Stempel und Urkunden auftauchen, wird es rechtlich heikel. Doch Karl Stülpner winkt ab. Zu viel Ärger, das interessiere ihn nur in seltenen Fällen. „Ich will nicht, dass mit dem Namen Geschäfte gemacht werden.“

Mit Genehmigung arbeitet nur eine kleine Privatbrauerei in Olbernhau. „Stülpner-Bräu“ stellt sie her, ein Starkbier für starke Männer, mit 6,5 Prozent Alkohol. „Das läuft super, wir verkaufen bis nach Dresden“, sagt Brauerei-Besitzer Günter Tippmann. „Voriges Jahr haben wir wieder mit der Familie verhandelt und den Titel für weitere zehn Jahre schützen lassen.“ Auf den Flaschen steht: „Mit Genehmigung seines Ur-Ur-Enkels gebraut.“ Gemeint ist der Großonkel von Karl Stülpner, der Mitte der 90er Jahre verstorben ist. Über dem Schriftzug prangt das Familienwappen.

In der „Räuberhöhle“ in Leipzig wird „Stülpner-Schnitte“ serviert. „Hab ich selber gebacken“, sagt der Gastgeber, „mit Waldheidelbeeren“. Der heutige Stülpner-Karl erzählt gern von seinem Urahn. Dabei geht es nicht um Jahreszahlen, um die Frage, wann der Stülpner-Karl von wem gesucht wurde oder in welchem Krieg er mal wieder kämpfte. „Das steht schon alles in den Büchern“, sagt er. Ihn interessiere, was der alte Stülpner für ein Mensch gewesen sei. „Ein Rabauke war er, so viel steht fest.“ Einer, der sich von keinem was sagen ließ; gern und laut Geschichten erzählte; Wein, Weib und Gesang recht zugetan war. Nachdem seine erste Frau gestorben war, zeugte er im Alter von 74 Jahren noch ein Kind. Das haben Historiker in den Akten gefunden. Von diesem Kind stammen die heute noch lebenden, derzeit 30 direkten Nachfahren ab. Alle anderen Stülpners, die es noch gibt, stammen von Geschwistern oder Onkeln des Gebirgshelden. Doch es ist so eine Sache mit den Nachfahren, mit den direkten und den weiter entfernten.

Auf der Burg Scharfenstein, wo vor ein paar Jahren ein Stülpner-Museum eingerichtet wurde, hört man die Sache nicht so gern. „Ab und zu kommt mal einer und sagt, er sei ein echter Stülpner“, sagt Burgverwalter Wolfgang Schönherr. „Man ist hier im Erzgebirge. Aber wer weiß, der Stülpner-Karl war viel unterwegs und wird seine Flinte schon weit gestreut haben.“ Mehr wolle er dazu nicht sagen. Bei der Einweihung des Museums seien die Erzgebirger enttäuscht gewesen, heißt es, als sich der Spross des Helden mit seinem bayerischen Dialekt präsentierte. „Nu is der Nachfahre vom Stülpner-Karl auch noch ein Wessi“, soll man sich zugeraunt haben. Etwas entspannter sieht das Ralph Görner. Der 46-Jährige ist es, den sie hier im Mittleren Erzgebirge als den Stülpner-Karl kennen. Er zieht sich altertümliche Kleidung an und setzt einen Jägerhut auf, wenn Volksfeste sind oder Touristen ins Erzgebirge kommen. Görner gibt als Stülpner-Karl Führungen, acht verschiedene hat er derzeit im Programm. Er hat die Geschichten auswendig gelernt, die der Original-Stülpner noch vor seinem Tod mit verfasst haben soll. Die berühmtesten Legenden, die Touristen in Scharfenstein zu hören bekommen, sind die von der Burgbelagerung und dem Postkutschen-Überfall. Es geht um Geschichten, in denen arme Menschen den Reichen ein Schnippchen schlagen, die Schauplätze liegen vor der Haustür, links und rechts der Bundesstraße 101. Bis heute verehren die Menschen im Gebirge ihren Stülpner, der in den schweren Zeiten angeblich so viel getan hat für den kleinen Mann. Er wisse, dass es da irgendwo noch eine Familie mit direkter Abstammung gebe. Aber schließlich stammten viele von dem alten Haudegen ab. Er selbst, Görner, sei auch „über viele Ecken“ verwandt mit dem Original-Stülpner.

Professor Roland Unger von der TU Dresden sieht das allerdings ein bisschen anders. „Jetzt wollen sie alle vom Stülpner abstammen“, sagt er. Er habe schon viele Anfragen bekommen. Die einzigen echten Stülpners gehörten jedoch alle zur Familie des Leipziger Bayern. Und überhaupt: „Der Stülpner-Karl ist kein Held gewesen, sondern eine typische Figur seiner Zeit. Er stammte aus armen Verhältnissen und musste zusehen, wie er über die Runden kam. Als Vorbestrafter.“

Unger hat vor einigen Jahren versucht, den Wahrheitsgehalt der Legenden zu überprüfen. Er suchte in sächsischen Archiven und wurde fündig. Bekannt sei Stülpner geworden, weil er einige populäre Streiche verübt habe. „Wenn man zu der Zeit einen Förster ausgetrickst hat, ist das bei den einfachen Leuten gut angekommen.“ So sei der Stülpner-Karl in der Literatur erst als berüchtigter Raubschütz geschildert worden, dann als Freijäger, schließlich als grüner Rebell.

Wer die Räuberpistolen liest und den Stülpner-Karl aus Leipzig kennen lernt, kommt in Versuchung, Parallelen zu ziehen. Da ist die große Statur, für die der Volksheld berühmt war. Als „grüner Riese aus dem Wald“ wurde er beschrieben. Professor Unger: „Nach meiner Kenntnis war er nur 1,74 Meter, was jedoch für die Zeit relativ groß war.“ Karl Stülpner der Fünfte ist 1,94 Meter groß.

Interesse an den Wurzeln

Auch das Talent zum Erzählen scheint ihm in die Wiege gelegt. Ebenso wie die Sache mit dem Rabauken, die zur traurigen Geschichte des Geschäftsmanns führt.

Zur Wende kam der Immobilienexperte nach Leipzig, projektierte Supermärkte im gesamten Osten. „Ich wollte hier keine Ernte einfahren“, sagt er heute. Seine Wurzeln hätten ihn interessiert, schnell habe er in Leipzig Freunde gefunden. Ein schönes Leben führte er: mit einer schicken Wohnung, einem dicken Auto vor der Tür, einem kleinen Vermögen auf der Bank, ein paar Immobilien, einer kleinen Firma mit 27 Angestellten.

Dass er Ende der 90er ruiniert sein würde, hätte er damals nicht geglaubt. Doch dann habe ihn ein Geschäftsfreund abgezockt, seine Frau sei davongelaufen, seine Gesundheit war dahin, sagt er. „Ich habe alles verloren, was ein Mensch verlieren kann.“ Ein Arzt gab ihm noch drei Monate, höchstens sechs. Karl Stülpner erzählt, wie er ums Überleben kämpfte und sich dabei aufs Spirituelle verlegte. Ayurveda in Sri Lanka, ein Kloster in Österreich. Er fand Menschen, die ihm erklärten, wie er wieder gesund werden könnte.

Dass er dem „Totengräber von der Schippe sprang“, wie er sagt, ist jetzt sechs Jahre her. Seitdem versucht Karl Stülpner, auch sonst wieder auf die Beine zu kommen. Er hilft Menschen, denen es ähnlich schlecht geht wie ihm damals, engagiert sich ehrenamtlich bei verschiedenen Vereinen. Ideen hat er viele, einige Projekte hat er in Angriff genommen, gute Kontakte aus alten Zeiten helfen dabei. Den originalen Stülpner-Karl will er dabei nicht vergessen. Eine Homepage soll es geben, ein Buch ist geplant.

Wenn er einmal stirbt, will er endgültig zu seinen Wurzeln zurück, sagt er. „Ich lasse mich verbrennen, meine Asche wird zu einem künstlichen Diamanten gepresst“, sagt Karl Stülpner. Angebracht werden soll der Stein neben dem Grab seines Urahnen in Großolbersdorf.