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Keine Angst vor Eliten

Grünes Licht für die Förderung begabter Schüler. Sachsen kann da viel vorweisen – sollte aber auch mit Blick auf den Lehrer-Generationswechsel in der Spur bleiben.

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© 123rf.com

Von Armin Asper

Mara mag Mathe. Und kann da was. Dumm nur, dass sie in die achte Klasse geht und ihre Mitschülerinnen T-Shirts tragen mit dem Spruch: „In Mathe bin ich Deko“. Da gehört sie nicht dazu. Und mit vierzehn möchte man dazugehören.

Armin Asper, (48) ist Vorsitzender der Vereinigung der Gymnasialdirektoren in Sachsen und leitet seit 2008 das Dresdner Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium. Er studierte in Saarbrücken und Leipzig und ist Lehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde/Rechtserziehu
Armin Asper, (48) ist Vorsitzender der Vereinigung der Gymnasialdirektoren in Sachsen und leitet seit 2008 das Dresdner Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium. Er studierte in Saarbrücken und Leipzig und ist Lehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde/Rechtserziehu

Paul ist sechzehn und spielt leidenschaftlich gerne Fußball. Außerdem liest er derzeit begeistert die Novellen von Guy de Maupassant. Im französischen Original.

Mara und Paul brauchen Förderung. Begabtenförderung. Das sächsische Schulgesetz formuliert im ersten Paragrafen „das Recht eines jeden jungen Menschen auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Erziehung und Bildung ohne Rücksicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage.“

Als nun die sächsische Kultusministerin im Frühjahr als Präsidentin der bundesdeutschen Kultusministerkonferenz (KMK) die Begabtenförderung auf die Agenda setzte und eine „bundesweite Strategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“ forderte, kam es umgehend zu den bekannten reflexartigen Einsprüchen: Akademikerkinder profitieren überdurchschnittlich, und ohnehin sei die Förderung der Schwachen das bessere Konzept, kommentierte etwa Spiegel online.

Dieser Reflex liegt in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte begründet. Im gesellschaftlichen Aufbruch der „68er“ und auch danach war „Elite“ ein Schimpfwort. „Eliten“ waren verantwortlich für den Aufstieg der Nationalsozialisten in den späten 20-er Jahren. „Eliten“ passten nicht in das Konzept einer egalitären Gesellschaft. Das ist bis heute nachvollziehbar. Allerdings müssen wir hier zwischen den Machteliten und den Leistungs- oder Funktionseliten unterscheiden. Machteliten, insbesondere in der Wirtschaft, haben tatsächlich den Hang dazu, sich in Privatinternaten in der Schweiz selbst zu reproduzieren. Mara und Paul aber gehören zur Leistungselite, unabhängig davon, ob Pauls Mutter ein größeres mittelständisches Unternehmen managt oder Maras Vater Hilfsarbeiter auf dem Bau ist. Sie nicht zu fördern, ist genauso problematisch wie die fehlende Förderung für jene 14 Prozent Schüler, die laut Pisa so schlecht lesen können, dass sie Informationen aus einfachen Texten nicht verstehen.

„Wir sind Exportweltmeister. Damit das so bleibt, muss die deutsche Wirtschaft ihr Niveau halten. Dazu braucht es die Begabten“ hielt die KMK-Präsidentin, Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth, den Kritikern entgegen. Noch vor diesem Nützlichkeitsargument gilt es aber, den Blick auf den einzelnen Schüler zu richten. Jeder von uns weiß, wie „Streber“ von Mitschülern manchmal behandelt werden. Da wird aus einer vermeintlichen Stärke schnell eine Schwäche, und das Recht „eines jeden jungen Menschen“ auf optimale Förderung bleibt auf der Strecke. Um dem Spott zu entgehen, spielt Paul dann irgendwann nur noch Fußball und Mara verkneift sich die Extrafragen in Mathe, weil sie das genervte Gestöhne der Klasse nicht mehr erträgt. Selbstbestimmte Persönlichkeitsbildung geht anders. Mara und Paul steht die Förderung ihrer selbst wegen zu.

Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die DDR viel unverkrampfter mit ihren Leistungseliten umgegangen ist und schon früh Spezialschulen eingerichtet hat, um begabte junge Menschen in ihren besonderen Stärken zu fördern. Es darf getrost davon ausgegangen werden, dass der Gründung dieser Schulen stärker das Nützlichkeitsprinzip des Staates als der Gedanken einer individuellen Förderung zugrunde lag. Dem einzelnen geförderten Schüler war das egal. Er konnte seine Talent ausleben und ausformen. An der alten Martin- Andersen-Nexö-Oberschule, der „Manos“ in Dresden, begannen so nicht wenige Karrieren heute erfolgreicher Ingenieure und Naturwissenschaftler. Darunter etwa die des Firmengründers Jan Blochwitz-Niemoth von der Dresdner Firma Novaled oder die des Vorstandsvorsitzenden der Carl Zeiss AG, Michael Kaschke. Leistungselite made in GDR.

Mittlerweile hat auch in den westlichen Bundesländern ein Umdenken im Umgang mit besonders begabten jungen Menschen stattgefunden. Das Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd in Baden-Württemberg – fast zur gleichen Zeit wie das sächsische Landesgymnasium St. Afra gegründet – oder Klassen für (Hoch)Begabte im Modelversuch, wie zum Beispiel am Deutschhausgymnasium in Würzburg, belegen das.

Der damalige Staatssekretär im sächsischen Kultusministerium, Wolfgang Nowak, hat bereits 1992 erkannt, dass Sachsen mit den Spezialschulen auf eine bestehende Infrastruktur zurückgreifen konnte, um Begabtenförderung im Schulgesetz und der Schulordnung zu etablieren. „Paragraf-4-Schulen“ ist der interne Jargon für die Gymnasien, die, wie es heute heißt, eine „vertiefte Ausbildung“ anbieten. Besagter Paragraf 4 der Schulordnung für Gymnasien überführte also die DDR-Spezialschulen in die neue Schul- und auch Gesellschaftsordnung und regelt seitdem grundlegend diese Sonderform in der Schulart. In den Ausrichtungen mathematisch-naturwissenschaftlich, musisch, sportlich, sprachlich und binational/bilingual können begabte junge Menschen in insgesamt 24 sächsischen Gymnasien gezielt gefördert werden. Dazu muss der interessierte Schüler ein zusätzliches Aufnahmeverfahren absolvieren, das sicherstellen soll, dass aus der Förderung in der Zukunft keine Überforderung wird.

Passt die Schule zu dem Schüler? Diese Frage soll auch den Perspektivwechsel verdeutlichen, den die Paragraf-4-Schulen vollzogen haben: Vom Nützlichkeitsprinzip des Staates, der Nachwuchs für seine Funktionseliten braucht, hin zur individuellen Förderung Begabter, ganz im Sinne des eingangs genannten Paragrafen 1 des Schulgesetzes, wonach jeder junge Mensch das Recht auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Erziehung und Bildung hat – ohne Rücksicht auf seine Herkunft und wirtschaftliche Lage.

Den Schüler erwartet in den verschiedenen Ausrichtungen der vertieften Ausbildung eine gezielte Förderung seiner Stärken mit Stundenplänen, die von den Regelstundenplänen abweichen sowie mit zusätzlichen Angeboten und ganz gezielter Betreuung.

Eine Sonderrolle im System der Begabtenförderung in Sachsen nimmt das Landesgymnasium St. Afra ein. Es zielt nicht auf einzelne Stärken in Naturwissenschaften, Sprachen, Musik oder Sport ab, sondern steht mehrfach begabten Schülern offen. Es dient also der ausgesprochenen Hochbegabtenförderung mit einem globalen Ansatz. Latein oder Griechisch als Pflichtsprachen unterstreichen hier die besondere Verbundenheit zu der humanistischen Bildungstradition.

Alle Schulen in Sachsen stehen in den nächsten Jahren vor einer immensen Herausforderung. Es gilt in einem für das Bundesland bisher beispiellosen Ausmaß, Lehrer in den Ruhestand zu verabschieden und neue Lehrer zu begrüßen. Dieser Generationenwechsel muss von Schulleitungen und Schulaufsicht qualitätssichernd gestaltet werden. Soweit die optimistische Sicht. Der Pessimist geht davon aus, dass es in den nächsten Jahren nur noch darum gehen wird, den Mangel zu verwalten.

Vor diesem Hintergrund müssen sich die Gymnasien mit vertiefter Ausbildung besonderen Fragen stellen. Auch dieser: Wird es auch in Zukunft genügend Schüler geben, die nicht nur die Begabung und Fähigkeiten für eine vertiefte Ausbildung mitbringen, sondern die auch bereit sind, sich den besonderen Anstrengungen dieser Ausbildung zu stellen?

Hier darf man auf die Auswirkungen der Zuwanderung gespannt sein. Bereits heute hat zum Beispiel etwa jeder zehnte Schüler in der vertieften mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung am Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium einen Migrationshintergrund. Sie zeichnen sich häufig durch eine besonders hohe Leistungsbereitschaft aus.

Ferner stellt sich die Frage, ob es der Schulaufsicht in Zusammenarbeit mit den Schulen gelingen wird, in Zeiten des Generationenwechsels geeignete Nachwuchslehrer für die Begabungsförderung zu gewinnen? Hier bietet das grundsätzlich hohe Niveau der Lehrerausbildung in Sachsen eine gute Grundlage. Die gezielte, bundesweite Ausschreibung von Lehrerstellen in der Begabungsförderung und für einzelne Schulen statt der Einstellung der Lehrer über ein Listenverfahren wäre dem Anliegen zuträglich.

Und: Bekennt sich die sächsische Schulpolitik auch nach innen zur Begabungsförderung? Hier wäre zu erwarten, dass die Paragraf-4-Schulen auch nach der derzeitigen Novellierung des Schulgesetzes einen festen Platz in Sachsen haben werden. Darüber hinaus müssen die Zuweisungen an Lehrern in der vertieften Ausbildung dauerhaft gesichert werden, damit eine nachhaltige Entwicklung dieser Schulen überhaupt möglich ist.

Paul ist seit der fünften Klasse Schüler an einer Schule mit vertiefter sprachlicher Ausbildung. Fußball spielen und die französische Literatur des 19. Jahrhunderts gehen da gut zusammen. Und Mara ist inzwischen in der neunten Klasse von ihrem Gymnasium an eine Schule mit mathematisch-naturwissenschaftlicher Vertiefung gewechselt. Dort mögen auch die Mitschüler Mathe. Und sie mögen Mara.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.