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Keiner will Präsident werden

Viele Görlitzer engagieren sich ehrenamtlich. Die volle Verantwortung aber scheuen die meisten. Aus gutem Grund.

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Von Ingo Kramer

Ein Jahr lang wollte Günter Friedrich als Präsident den Europamarathon-Verein leiten. Oder besser gesagt: sollte. Rolf Weidle, der geistige Vater des Laufes, hatte Friedrich darum gebeten. Inzwischen sind daraus schon zwölf Jahre geworden. „Und ein Ende ist nicht absehbar“, sagt der 75-Jährige, der ein erfolgreicher Tischtennisspieler ist, aber mit dem Laufsport bis dahin wenig am Hut hatte. Er würde das Amt des Präsidenten gern abgeben. Doch es findet sich einfach kein Nachfolger. Friedrich kann das sogar ein Stück weit verstehen: „Ich trage viel Verantwortung, ohne dafür auch nur einen Cent zu bekommen.“

Ansonsten aber lässt Friedrich nichts auf das Ehrenamt kommen. Mit Detlef Lübeck, Werner Horn und Jaroslaw Chuderski hat der Europamarathon seit vielen Jahren konstante Organisatoren, mit Norbert Wege einen engagierten Schatzmeister. Auch diese vier Männer arbeiten zum Großteil ehrenamtlich. „Und wir haben jedes Jahr 400 bis 500 freiwillige Helfer“, sagt Friedrich. Viele dieser Menschen arbeiten am Marathon-Wochenende für 20 Stunden, ohne dafür Geld zu erhalten.

Das zwiespältige Bild bestätigt sich auch in der großen Umfrage der Sächsischen Zeitung im Rahmen der Serie „Was geht, Alter?!“. Dort hatten wir gefragt: „Würden Sie sich engagieren, um das Leben an Ihrem Wohnort zu verbessern, zum Beispiel in einer Bürgerinitiative, einem Verein oder der Kommunalpolitik?“ Immerhin jeder vierte Befragte beantwortet diese Frage mit „Ja, das tue ich schon“. Spitzenreiter sind hier Alt- und Nikolaivorstadt, wo diese Antwortmöglichkeit sogar von 30,4 Prozent der Teilnehmer angekreuzt wurde. Am anderen Ende der Skala rangieren Weinhübel und Rauschwalde mit gerade einmal 16 Prozent. Ein weiteres Viertel sagt „Ja, aber mir fehlt die Zeit dazu“. Dieser Wert war in sämtlichen Orten des Görlitzer Umlandes (32,3 Prozent) übrigens deutlich höher als in der Stadt. Weniger oft angekreuzt wurden die Vorschläge „Ja, aber ich weiß nicht, welche Möglichkeiten es da gibt“, „Ja, aber ich fühle mich nicht kompetent genug“ sowie „Ja, aber ich bin gesundheitlich zu sehr beeinträchtigt“.

Auf der anderen Seite konnten die Teilnehmer auch mit Nein antworten. Besonders oft angekreuzt wurde „Nein, denn wichtige Entscheidungen werden von Politik und Verwaltung ja doch ohne Einwohner gefällt“. In Weinhübel und Rauschwalde, aber auch in den eingemeindeten Ortsteilen, sehen das 28 Prozent der Teilnehmer so, in Königshufen fast 27. Weitaus weniger verdrossen sind die Bewohner des Görlitzer Umlandes sowie aus der Südstadt und Biesnitz mit jeweils rund 15 Prozent.

Schließlich stand die Antwortkategorie „Nein, ich bin froh, dass ich meine Ruhe habe“ zur Auswahl. Hier schwankt das Meinungsbild extrem: Von 2,2 Prozent in der Alt- und Nikolaivorstadt und 2,6 Prozent in den eingemeindeten Ortsteilen bis zu 17,8 Prozent in Königshufen. Simone Drescher, die Vorsitzende des Vereins Kunnerwitzer Gemeinschaft, sieht sich mit den 2,6 Prozent bestätigt: „Mir fällt in Kunnerwitz auf Anhieb niemand ein, der das so sieht.“ Ihr Verein besteht erst seit anderthalb Jahren, hat aber dazu geführt, dass sich viele Einwohner im Ortsteil besser kennengelernt haben und mehr miteinander unternehmen. Zudem gibt es in Kunnerwitz seit Jahren noch weitere Vereine, in denen sich ebenfalls viele Einwohner einbringen.

Auch Günter Friedrich, der seit 15 Jahren für die Wählervereinigung „Bürger für Görlitz“ im Stadtrat sitzt, sieht sein eigenes Wohnumfeld positiv. Er lebt in der Alex-Horstmann-Straße. Die Strecke des Europamarathons führt da entlang. „Sechs Leute aus meinem Wohnhaus betreuen dort den letzten Stand und geben unter anderem Getränke aus.“ Darüber freut er sich sehr. Auf jeden Fall wäre es Unsinn, zu sagen, niemand engagiere sich mehr.

Andererseits ist da immer noch das Problem der Präsidentschaft. Und nicht nur in seinem Verein. Friedrich berichtet vom Chef des Postsportvereins: „Der ist auch schon über 70 und findet keinen Nachfolger.“ An solchen Posten hänge viel Verantwortung, aber auch viel Arbeit. Zum Glück habe er im Europamarathon-Verein ein so gutes Büroteam hinter sich: „Die lassen mich mit dem täglichen Kleinkram in Ruhe.“ Im September stehen im Verein wieder Wahlen an. Gesucht wird ein Präsident für die nächsten vier Jahre. Kandidaten gibt es keine. Alle erwarten, dass Friedrich weitermacht. „Dann bleibt mir wohl nichts weiter übrig“, sagt er. Am Ende der Amtszeit wird er dann fast 80 Jahre alt sein.