Kinderärztin im sozialen Brennpunkt

Annegret Geisler hat sie genau im Blick: die tanzenden Teufel, einen Igel mit Blättern, Blumen und die Arbeiter beim Straßenbau. All das sind Motive auf Bildern, die kleine Patienten ihrer Ärztin geschenkt haben. Sie hängen an der Wand des größeren der beiden Sprechzimmer, genau gegenüber dem Schreibtisch der Kinderärztin. Sie sind nur ein Teil der Kunstwerke, die Annegret Geisler im Laufe ihrer Arztkarriere erhalten hat. Alle aufzuhängen, dafür reicht der Platz nicht aus.
Annegret Geisler ist gerade 70 geworden. Noch immer praktiziert sie als Kinder- und Jugendärztin in der Luisenstraße 15, einem sozialen Brennpunktgebiet in Görlitz, wie sie sagt. In diesem Stadtviertel leben viele Familien mit sozialen Problemen. Drogen- und Alkoholmissbrauch spielen im Viertel eine größere Rolle als anderswo. Kinder sind häufiger krank, zu oft fehlen sie in der Schule. Nicht immer werden Hinweise der Ärztin zu Familien mit Problemen an das Jugendamt so ernst genommen, wie es aus ihrer Sicht nötig wäre.
Zu Annegret Geisler kommen nicht nur Kinder aus dem Stadtteil, sondern aus der ganzen Stadt und aus Orten zwischen Zittau und Boxberg. Auch viele junge Patienten mit ausländischen Wurzeln – nicht nur Geflüchtete – macht die Kinderärztin wieder gesund. Sogar aus Warschau kommen sie zu ihr. Das liegt daran, dass die Kinderärztin kleine Patienten mit ADS und ADHS sowie mit Autismus behandelt. Die ersten beiden Erkrankungen sind Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, bei ADHS kommt noch Hyperaktivität dazu. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Für die Behandlung dieser Erkrankungen hat sich die Kinderärztin speziell qualifiziert. Gemeinsam mit Ulrike Steinke aus Görlitz hilft die Kinderärztin in einer ADHS-Selbsthilfegruppe betroffenen Familien.
Die gebürtige Görlitzerin absolvierte nach dem Abitur das Medizinstudium in Halle an der Saale. 1974 war sie fertig und kam an die neue Kinderklinik in Görlitz. „Das war damals das Neueste und Modernste, was es gab“, erinnert sie sich. Der Arbeitsstil war ein ganz anderer, als er etwa heute üblich sei. Annegret Geisler arbeitete damals in der Kinderklinik Görlitz, bot Sprechstunden und Mütterberatung im Kreis Niesky an, fuhr Notarztdienste und absolvierte Nachtschichten sowie Wochenenddienste. „Das war damals so“, sagt sie und staunt heute manchmal selbst, wie das alles unter einen Hut gepasst hat. „Nebenbei“ war sie auch verheiratet und zog drei eigene Kinder groß. 1983 übernahm Frau Geisler die Leitung der Mütterberatung an der Ecke Curiestraße/Ecke Elisabethstraße. Mit der Wendezeit musste auch sie sich neu orientieren. Sie baute die Räume der Mütterberatung um und eröffnete eine Kinderarztpraxis. Als dieses Gebäude verkauft wurde, sollte Frau Geisler ausziehen. Sie fand 1999 in der Luisenstraße eine neue Praxis. Die findet sie sehr günstig gelegen, sie ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß gut erreichbar.
Dass Annegret Geisler noch immer praktiziert, obwohl sie schon einige Jahre Rentnerin sein könnte, hat mehrere Gründe. Ihr Mann ist bereits verstorben, die Kinder und die vier Enkel leben nicht in Görlitz. Die 70-Jährige weiß, dass sie dringend gebraucht wird als Kinderärztin. Das sagen ihr die Eltern der Kinder und die Zahl der Patienten, die sie täglich hat. Nie ist pünktlich Feierabend, nie werden Patienten abgewiesen. Und sie ist mit Leib und Seele für Kinder und Jugendliche da. „Man muss lieben, was man tut, dann macht man das gern“, sagt sie. Alles sei eine Frage der Einstellung zum Beruf.
Trotzdem wünscht sie sich manchmal, sich allmählich zurückziehen zu können. Sie würde gern mehr Zeit mit ihren Kindern und Enkeln verbringen, Geige spielen, vielleicht im Görlitzer Liebhaberorchester Sinfonietta Meridiana, und sich ehrenamtlich in Selbsthilfegruppen als Ratgeberin engagieren. Auf den nächsten Urlaub freut sie sich sehr. Eine Tochter, auch eine Ärztin, lebt mit ihrer Familie in Norwegen. Frau Geisler hatte gehofft, dass sie die Praxis einmal übernimmt. Es ist anders gekommen. Nach dem ersten Urlaub in Norwegen konnte die Mutter verstehen, warum sich die Tochter dort so wohl fühlt. „Dort herrschen sehr gute Lebensverhältnisse, die Kinderfreundlichkeit ist riesig, die Leute sind sehr nett, ausgeglichen und nicht so hektisch wie hier“, hat sie festgestellt. Vielleicht kann sich Annegret Geisler bald zur Ruhe setzen. Wie es jetzt aussieht, hat sie einen Nachfolger gefunden. „Wenn alles gut läuft, fängt er dieses Jahr noch an.“ Dann könne sie ruhigen Gewissens aufhören, sagt sie.
Bis es so weit ist, bleiben Annegret Geisler und ihre vier Mitarbeiterinnen weiter mit viel Herzblut und Engagement für die Patienten da. Und über kleine Kunstwerke der Kinder freut sie sich noch immer – auch wenn die Wand schon voll ist.
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